: Voltaire
: Guro Verlag
: Die Prinzessin von Babylon
: Books on Demand
: 9783842337121
: 1
: CHF 1.60
:
: Erzählende Literatur
: German
: 95
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wer mit Voltaire nach Babylon reist, der gerät nicht nur in eine Welt des Orientalismus und Exotismus. Er begegnet beim Lesen zugleich dem zeitgenössischen Europa von England bis zum Papst in Rom. Und in leicht durchschaubarer, lockerer Verkleidung ist eine bis heute aktuelle Reisebegleiterin allgegenwärtig: die Frage nach dem Verhältnis der europäischen Kultur und Bildung zu ihren welthistorischen Nachbarn.

Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet, 1694 - 1778) war ein französischer Philosoph und Schriftsteller. Er ist einer der meistgelesenen und einflussreichsten Autoren der französischen und europäischen Aufklärung. In Frankreich nennt man das 18. Jahrhundert auch 'das Jahrhundert Voltaires" (le siècle de Voltaire). Viele seiner Werke erlebten in rascher Folge mehrere Auflagen und wurden häufig auch umgehend in andere europäische Sprachen übersetzt. Voltaire verfügte über hervorragende Kenntnisse der englischen und der italienischen Sprache und veröffentlichte darin auch einige Texte. Er verbrachte einen beträchtlichen Teil seines Lebens ausserhalb Frankreichs und kannte die Niederlande, England, Deutschland und die Schweiz aus eigener Erfahrung. Mit seiner Kritik an den Missständen des Absolutismus und der Feudalherrschaft sowie am weltanschaulichen Monopol der katholischen Kirche war Voltaire ein Vordenker der Aufklärung und ein wichtiger Wegbereiter der Französischen Revolution. In der Darstellung und Verteidigung dessen, was er für richtig hielt, zeigte er ein umfangreiches Wissen und Einfühlungsvermögen in die Vorstellungen seiner zeitgenössischen Leser. Sein präziser und allgemein verständlicher Stil, sein oft sarkastischer Witz und seine Kunst der Ironie gelten oft als unübertroffen.

Die Prinzessin von Babylon


Der alte Belus, König von Babylon, hielt sich für den bedeutendsten Mann der Welt, denn alle seine Höflinge sagten und seine Geschichtschreiber bewiesen es ihm. Was diese seine Lächerlichkeit immerhin entschuldigen konnte, war der Umstand, daß seine Vorgänger in der Tat dreißigtausend Jahre vor ihm Babylon erbaut hatten, und er es verschönerte. Es ist bekannt, daß sein Palast und sein Park sich einige persische Meilen vor Babylon zwischen dem Euphrat und dem Tigris ausdehnten, welche beiden Flüsse diese verzauberten Ufer bespülten. Sein mächtiges, dreitausend Schritte langes Haus ragte bis in die Wolken hinauf. Das flache Dach war von einem fünfzig Fuß hohen Marmorgeländer umgeben und trug die Riesenbildsäulen aller Könige und aller großen Männer des Reiches. Das Dach selber, welches aus zwei mit dicken Bleiplatten belegten Backsteinschichten bestand, war zwölf Fuß hoch mit Erde bedeckt, und in diese Erde hatte man Oliven-, Orangen-, Zitronen-, Palmen-, Gewürz-, Kokosnuß- und Zimtwälder gepflanzt, welche keinen Sonnenstrahl auf die schattigen Wege herabfallen ließen.

Die durch Pumpen in hundert hohlen Säulen emporgehobenen Wasser des Euphrat füllten in diesen Gärten mächtige Marmorbecken und bildeten dann, durch andere Kanäle wieder herabfallend, unten im Park sechstausend Fuß lange Wasserfälle und hunderttausend Springbrunnen, deren Höhe sich kaum wahrnehmen ließ; darauf flössen sie zurück in den Euphrat, dem sie entstiegen waren. Die Gärten der Semiramis, welche um einige Jahrhunderte später Asien in Erstaunen versetzten, waren nur eine schwächliche Nachahmung dieser alten Wunder, denn zu Zeiten der Semiramis begann ein großer allgemeiner Niedergang sowohl unter den Männern wie unter den Weibern.

Was in Babylon jedoch am wunderbarsten war, was alles übrige in Schatten stellte, das war die einzige, Formosante geheißene Tochter des Königs. Nach ihren Bildnissen und Statuen hat im Verlauf der Jahrhunderte Praxiteles seine Aphrodite und jenes andere Standbild gemeißelt, welches man die Venus mit den schönen Hinterbacken nannte. Oh Himmel, welch ein Unterschied aber zwischen dem Urbild und seinen Nachbildungen! So war Belus auf seine Tochter denn auch stolzer als auf sein Königreich. Sie zählte achtzehn Jahre, und ein Gatte tat ihr not, der ihrer würdig war. Wo aber ihn finden? Ein altes Orakel hatte bestimmt, Formosante dürfe nur demjenigen angehören, der Nimrods Bogen zu spannen vermöchte. Nimrod, der gewaltige Jäger vor dem Herrn, hatte einen sieben babylonische Fuß hohen Bogen aus einem Ebenholze hinterlassen, das härter war als das Eisen aus dem Berge Kaukasus, welches in den Schmieden von Derbent verarbeitet wird, und kein Sterblicher seit Nimrod hatte diesen wunderbaren Bogen zu spannen vermocht.

Ferner war noch gesagt worden, daß der Arm, so diesen Bogen gespannt, auch den furchtbarsten und gefährlichsten Löwen töten sollte, der je im Zirkus von Babylon losgelassen. Das war noch nicht alles: der Bogenspanner und Löwentöter sollte auch alle seine Nebenbuhler zu Boden ringen, vor allem aber mußte er viel Verstand haben, der Herrlichste von allen Menschen und der Tugendhafteste sein, und das seltenste Ding besitzen, das es auf der ganzen Erde gab.

Es traten drei Könige auf, welche um Formosanten zu streiten wagten: der Pharao Ägyptens, der Schah von Indien und der große Khan der Skythen. Belus bestimmte den Tag des Kampfes und als Ort die weite, von den vereinigten Wassern des Euphrat und Tigris begrenzte Ecke am äußersten Ende seines Parkes. Rings um den Kampfplatz errichtete man ein marmornes Amphitheater, das fünfhunderttausend Zuschauer fassen konnte. Dem Amphitheater gegenüber war der Thron des Königs, der, vom gesamten Hofe geleitet, mit Formosanten erscheinen wollte, und zur Rechten und Linken zwischen diesem Thron und dem Amphitheater waren noch andere Throne und Sitze für die drei Könige und alle anderen Herrscher aufgestellt, welche etwa Lust verspüren sollten, dieser erhabe