: Gabriele Diechler
: Die Roseninsel Ein Cornwall-Roman
: Insel Verlag
: 9783458766667
: 1
: CHF 13.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 464
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Kann man sich im falschen Moment verlieben?

Und überwindet Liebe jedes Hindernis?

Buc händlerin Emma reist nach London, um ihren verstorbenen Eltern noch einmal nahe zu sein, denn diese hatten sich dort kennen- und lieben gelernt.
Schon am ersten Tag begegnet ihr die sympathische Witwe Ava. Die beiden Frauen freunden sich an, und Ava macht Emma das verlockende Angebot, in ihrem Anwesen auf der Roseninsel in Cornwall die Bibliothek auf den neuesten Stand zu bringen. Begeistert sagt Emma zu.
Völlig unerwartet trifft sie in dem Haus auf den Klippen auf Avas Sohn Ethan, der ihr gegenüber sehr abweisend ist. Dennoch fühlt Emma sich zu ihm hingezogen. Als sie herausfindet, was hinter Ethans kühler Fassade steckt, begreift sie, wie tief Liebe gehen kann - und steht plötzlich vor der größten Herausforderung ihres Lebens ...

Ein warmherziger und gefühlvoller Roman über Glück und Hoffnungslosigkeit, Verlust und Liebe - all das, was ein Leben ausmacht.



<p>Gabriele Diechler, in Köln geboren, lebt und arbeitet im Salzkammergut. Nach vielen Jahren als Drehbuchautorin und Dramaturgin widmet sie sich nun hauptsächlich dem Roman und Jugendbuch.</p>

2. Kapitel


London, Juni

Erin Bassets AbhandlungZeig mir den Ort, wo die Liebe wohnt war lange Zeit das Lieblingsbuch ihrer Mutter.

Emma erinnerte sich noch gut daran, wie ihre Mutter sich zu Vater ans Bett setzte, um ihm mit leiser Stimme daraus vorzulesen. Es war wenige Wochen nach seinem Schlaganfall, und während Emma nun die Oxford Street hinablief, sah sie die Szene vor sich, als wäre es gestern gewesen. Ihre Mutter hatte nach Vaters Hand gegriffen, ihm aufmunternd zugelächelt und zu lesen begonnen … von Hoffnung und Mitgefühl und der Leichtigkeit der Liebe, die selbst in schwierigen Momenten aufblitzen konnte, wenn man wahrhaftig liebte. Hannes hatte stumm zu weinen begonnen. Emma hatte im Türrahmen gestanden und mit zugeschnürtem Hals beobachtet, wie ihre Mutter ihm das verschwitzte Haar aus der Stirn strich. Sie ging mit ihm um, als hätte sich nichts verändert. Als wäre er nicht auf sie angewiesen – als wäre alles wie immer.

»Weißt du, weshalb ich dich so liebe?«, hatte sie ihn flüsternd gefragt.

Er hatte noch nicht mal nicken können.

»Ich liebe dich, weil du in all den Jahren nie weggelaufen bist, egal, was passiert ist, und weil du ehrlich bist und keine Angst davor hast, dich verletzlich zu zeigen. Deshalb bin ich so glücklich mit dir.«

Angesichts seines Zustands – ihr Vater hatte damals kaum sprechen können und war halbseitig gelähmt – waren ihm diese Worte vermutlich wie das schönste Geschenk vorgekommen, das ein Mensch einem anderen machen konnte. Ihre Mutter besaß die Fähigkeit, über sich hinauszuwachsen, wenn das Leben es verlangte, das begriff Emma in diesem Moment. Und Emma hoffte, eines Tages wie sie zu sein.

Nach Peggys Tod, kein Jahr nach seinem Schlaganfall fiel Hannes in ein tiefes Loch. Emma nahm die Rolle ihrer Mutter ein und kümmerte sich um ihn, so gut sie konnte. Eine Serbin half ihr mit der Pflege.

Doch jeder Tag barg Tücken, und die Fortschritte, die Hannes machte, waren in seinen Augen nie groß genug. Es waren schwierige Jahre, und nach einem zweiten Schlaganfall wurde es noch herausfordernder.

Emma spürte, wie bedrückend die Gedanken an jene Zeit waren. Doch Gedanken ließen sich nicht einfach abstellen. Seit sie das Hotel nach dem Frühstück verlassen hatte, spulten sich die letzten Jahre mit ihrem Vater immer wieder vor ihrem geistigen Auge ab. Es war, als würde sie die wichtigsten Momente mit ihm noch einmal erleben.

Als es ihrem Vater gegen Ende sehr schlecht gegangen war – nach zwei Schlaganfällen und PflegestufeIV musste sie täglich mit dem Schlimmsten rechnen –, hatte sie versucht, sich zu wappnen. Ohne Familie dazustehen wäre schlimm, aber sie käme klar. Doch obwohl sie sicher gewesen war, vorbereitet zu sein, hatte das Ableben ihres Vaters sie kalt erwischt.

Wie sehr dieser zweite Verlust ihr tatsächlich zu schaffen machen würde, hatte sie nicht ahnen können. Nach dem Tod ihres Vaters empfand sie nur noch ein Gefühl der Leere.

Eine Gruppe Japaner verstopfte den Weg. Emma wich den fotografierenden Touristen aus und sprang geistesgegenwärtig auf den Bürgersteig zurück, als das Hupen eines Busses hinter ihr erklang.

Immerhin hatte der Tod ihres Vaters sie nach England gebracht, redete sie sich gut zu. Noch einmal an die Orte zurückzukehren, an denen für ihre Eltern alles begonnen hatte, würde ihr helfen, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen und sich auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag.

Ein Pantomime gab für einen kurzen Moment seine starre Haltung auf und schenkte Emma ein Lächeln. Sie spürte, wie auch ihr Mund sich zu einem Lächeln verzog.

Freundlichkeit hatte auch ihr Vater vor über vierzig Jahren erfahren, als er von der Oxford in die Regent Street einbog und wenige Augenblicke später die Buchhandlung entdeckte, in der ihre Mutter zu jener Zeit arbeitete. Er war auf der Suche nach einem Buch gewesen, das er abends vorm Einschlafen lesen konnte.

In einer Familie wie ihrer aufzuwachsen, hatte Emma immer als großes Glück empfunden. Zu Hause hatten sie über alles sprechen können. Kein Thema war tabu. Wenn sie nicht über ihre Erlebnisse und Gefühle sprachen, tauschten sie sich über die Bücher aus, die sie lasen, überall in der Wohnung gab es welche: Sie standen in Regalen, stapelten sich auf Tischen und Sesseln, lagen sogar in der Küche, wo ihre Mutter sich manchmal über ein Buch beugte und noch schnell das Ende eines Kapitels las, während sie in einem Topf rührte. Es war ein Leben voller Geschichten, im Austausch von Wissen. Ein Leben, das sie geliebt hatte und das nun endgültig Vergangenheit war.

Von irgendwo drang das Heulen einer Polizeisirene. In London war wieder mal die Hölle los. Der Verkehr war mörderisch, und die Touristengruppen rollten sich, einer Karawane gleich, die Straßen hinunter. Emma bekam all das nur am Rande mit.

Erst vorhin hatte sie wieder daran denken müssen, wie ihr Vater jedes Jahr den Nachmittag wiederaufleben lassen hatte, an dem er und Peggy sich begegnet waren.

»Das erste Aufeinandertreffen mit deiner Mutter hat mein Herz so laut zum Schlagen gebracht, dass ich in Panik geraten bin, sie könnte es hören. War kein rühmlicher Beginn, aber ein unvergesslicher.«

Ihre Mutter hatte oft gesagt, niemand übertreibe so charmant wie ihr Mann und niemandem höre sie so gern dabei zu.

Emma hörte im Kopf die Stimme ihrer Mutter – beinahe als schlenderte Peggy neben ihr die Oxford Street entlang.

Das Fenster eines Cafés huschte an ihr vorbei. Emma hatte die Frau nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen, doch nun verknüpfte sich deren Antlitz mit dem ihrer Mutter in jungen Jahren. Die gleichen Haare und eine ähnlich grazile Statur. Sie hastete zurück und blieb wie angewurzelt vor dem Café stehen. An einem Bistrotisch am Fenster saß eine Frau, die ihrer Mutter ähnlich sah, und küsste einen Mann. Die beiden wirkten sehr verliebt.

Solange sie denken konnte, war die Liebe ihrer Eltern für sie das Maß der Dinge, und mit dem Tod der beiden zerbrach auch ein Teil ihrer Sicherheit, ihres Lebens.

Emmas Knie gaben nach. Rasch holte sie ein Bonbon aus der Jackentasche, wickelte es aus dem Papier und steckte es sich in den Mund. Seit der Beerdigung ihres Vaters – dem absoluten Tiefpunkt ihres Lebens – aß sie kaum noch etwas. Vermutlich war sie unterzuckert.

Unwillig löste sie sich vom Anblick des jungen Paars und ging weiter. Alles, was ihr von ihren Eltern blieb, waren einige antike Möbel und Erinnerungsstücke, vor allem aber unzählige Bücher und Fotos glücklicher Momente, die sie als Familie miteinander geteilt hatten. Und natürlich das hellrote Notizbuch ihrer Mutter, das diese immer nurMeine Liebesliste genannt hatte.

Emma bog in die Regent Street, ließ einige Geschäfte hinter sich und blieb schließlich vor der Auslage der Buchhandlung stehen, in der ihre Mutter in jungen Jahren mehr als fünf Jahre gearbeitet hatte.

Von einem Plakat lächelte der Bestsellerautor Andrew Wilson unter buschigen Augenbrauen auf sie hinab.

Andrew hatte am Beginn seiner Karriere und auch später regelmäßig in der Buchhandlung ihrer Eltern gelesen, die sie einige Jahre nach der Hochzeit in der Ehrenstraße in Köln eröffnet hatten. Am liebsten hatte er im Lieblingssessel ihrer Mutter, neben dem Regal mit den Krimis, gelümmelt. Dort hatte er die Beine lang ausgestreckt, im Gesicht dieses wache Grinsen, das für ihn typisch war, und über Philosophie diskutiert.

Emma erinnerte sich an vieles aus dieser Zeit, besonders an den Tag ihres fünften Geburtstags. Andrew war auf Lesereise gewesen und hatte sich auch in Köln die Ehre gegeben. An jenem Abend hatte er nach ihrem Zeigefinger gegriffen und war damit über eine Seite des Buchs gefahren, das er gerade las. Dabei hatte er aufmunternd behauptet: »Emma, ist dir klar, dass du gerade liest?! Also los, erzähl mir, was auf dieser Seite steht.«

Die Worte kamen ohne die kleinste Regung über seine Lippen, und weil Andrew nicht die Spur eines Zweifels zeigte, begann Emma ungehemmt auf Englisch draufloszuplappern. Während sie ihm eine erfundene Geschichte erzählte, wirbelten ihre tapsigen,...