: Claudia Romes
: Die Fabrik der süßen Dinge - Helenes Träume Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841233073
: Die Süßwaren-Saga
: 1
: CHF 8.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Bittersüße Offenbarungen.

Köln 1933: Helene hat sich für die Süßwarenmanufaktur ihrer Familie entschieden und setzt alles daran, das Unternehmen erfolgreich durch die Weltwirtschaftskrise zu manövrieren. Doch ihre Ehe mit Georg bekommt bereits nach der Geburt ihrer Tochter erste Risse - und dann gerät auch noch der Ruf der Firma in Gefahr. Dass ausgerechnet Frederik, ihr einstiger Verlobter und Konkurrent aus Hamburg, sie und ihre Kreationen retten könnte, wirft Helene aus der Bahn, und längst erloschen geglaubte Gefühle kommen wieder auf ... 

Liebe Leidenschaft und Lakritz - die berührende Geschichte einer jungen Bonbonmacherin, die auch in unsteten Zeiten ihren Traum nicht aufgibt.

 



Claudia Romes wurde 1984 als Kind eines belgischen Malers in Bonn geboren. Mit neun Jahren begann sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, und fasste den Entschluss, eines Tages Schriftstellerin zu werden. Nach einigen beruflichen Umwegen widmete sie sich ganz dem Schreiben und lebt heute ihren Traum. Die Autorin wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Vulkaneifel. Im Aufbau Taschenbuch sind bereits ihre Romane »Das Geheimnis der Hyazinthen«, »Beethovens Geliebte« sowie »Die Fabrik der süßen Dinge - Helenes Hoffnung« erschienen.

Kapitel 1


Köln, Ende 1933

Schwer senkte sich die frühe Abenddämmerung über das Deutzer Industrieviertel. Dichte graue Wolken hatten sich darüber gespannt und raubten das letzte Licht des scheidenden Tages.

Helene riss die Autotür auf und verstaute ihre Aktentasche auf dem Beifahrersitz. Wieder einmal hatte sie lange Stunden in der Fabrik zugebracht. Trotz Doktor Wunderlichs Warnung, sie solle sich nicht übernehmen, hatte sie die Produktion ihres neuen Lakritz-Karamell-Konfekts persönlich überwacht. Mit den Angestellten der Bonbonwerkstatt hatte sie letzte feine Änderungen am Rezept vorgenommen und eine erste Anzahl der Süßigkeit über das Band laufen lassen. Nebenbei hatte sie den Kampf mit dem Vertrieb für sich entschieden. Dieser hatte sich anfangs wenig begeistert von ihrem Vorschlag gezeigt, die Ware in Schachteln anzubieten.

»Schönes Wochenende, Frau Kronenberg!« Die Vorarbeiterin Helma Berens klopfte sacht gegen das Autofenster, und Helene hob zum Abschied die Hand. Helma führte eine Gruppe Frauen und Männer an, die zum Schichtende aus der Süßwarenfabrik strömte. Mantelkrägen wurden hochgeschlagen, Mützen aufgesetzt und Schirme aufgespannt, um dem einsetzenden Schneeregen zu trotzen.

Helene startete den Motor. Leise zischend umschloss sie mit einer Hand ihren Bauch, wieder spürte sie dieses Ziehen im Unterleib. Vor ein paar Tagen hatte sie es zum ersten Mal bemerkt, aber niemandem davon erzählt. Der Geburtstermin war in sechs Wochen und Scheinwehen, so wie Eva sie nannte, waren in dieser Zeit völlig normal. Ihre Schwägerin hatte selbst zwei Kindern das Leben geschenkt und Helene ausführlich vorbereitet. Ohnehin hatte Helene keine Zeit zur Schonung. Ihr Terminkalender war voll und eng aufeinander abgestimmt. Es galt ein weiteres Produkt auf dem Markt zu platzieren und auch das Weihnachtsgeschäft war bereits angelaufen. Möglichst viel musste bis zur Geburt erledigt werden, damit sie die Firmenleitung ruhigen Gewissens in die Hände ihres ältesten Bruders Alfred legen konnte – zumindest für ein paar Wochen.

Als sie in der Backsteinvilla ihrer Familie ankam, war sie erleichtert, dass der Tag sich dem Ende zuneigte. Im Flur nahm ihr das neue Dienstmädchen Mantel, Hut und Schal ab. »Noch ein Tee vor dem Abendessen, Frau Kronenberg?«

»Nein danke, Fanny. Ist mein Mann schon zu Hause?«

»Der gnädige Herr ließ ausrichten, dass es spät bei ihm wird. Sie mögen ohne ihn zu Abend essen.«

Helene nickte mit einem schwachen Lächeln. Fanny bestach durch angenehme Zurückhaltung. Schon nach kurzer Zeit war Helene außerdem ihr Intellekt aufgefallen. Das Dienstmädchen rechnete ihr blitzschnell die Ausgaben für den Wocheneinkauf vor und ihre Ausdrucksweise war stets gewählt. Doch in Fannys Familie war es üblich, in Stellung zu gehen. So gehörte sie, wie schon ihre Mutter vor ihr, zum Hausstand der Kronenbergs. Während Georgs Eltern durch Italien reisten, unterstützte sie das Personal der von Ratscheks in der Fabrikantenvilla.

In aufdringlicher Lautstärke hallte Marlene Dietrichs »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt« durchs Haus. Helene folgte der Musik ins Esszimmer. Ihre Mutter stand mit ihrem Hündchen Goldie auf dem Arm neben dem Plattenspieler am Fenster. Wie immer war Klara von Ratschek die Eleganz in Person. Über dem schmal geschnittenen Rock trug sie eine Samtbluse mit Puffärmeln. Gedankenverloren starrte sie hinaus auf die sich verdunkelnde Straße und summte die Melodie mit, obwohl die Platte hakte – immer an derselben Stelle.

»Guten Abend, Mama«, begrüßte Helene sie, dann hob sie die Nadel des Plattenspielers an und unterbrach damit die sich wiederholende Dietrich. »Wirf diese Scheibe endlich weg. Ich kaufe dir eine neue.«

»Die ist völlig in Ordnung«, erwiderte ihre Mutter trotzig.

»Du behältst sie, weil sie von Papa stammt.«

Klara zuckte leicht die Schultern und wechselte das Thema. »Du kommst reichlich spät, Lenchen.«

Helene küsste sie auf die Wange. »Verzeih mir. Ich konnte mich nicht eher loseisen.«

»Du verlangst dir zu viel ab.« Sie strich wie in Trance über das glatte Rückenfell ihres Jack Russell Terriers. »Georg sorgt sich ebenfalls um dich, und um euer Kind.«

»Ich kenne meine Grenzen genau.« Helene nahm am Tisch Platz und entfaltete ihre Serviette. »Außerdem bin ich nicht krank. Ich bin lediglich in anderen Umständen.«

»Gewiss doch. Nichtsdestotrotz solltest du dich nicht so strapazieren. Es ist nicht notwendig, dass du täglich in die Fabrik fährst. Du hast doch das Fräulein Berens, auf das du dich verlassen kannst. Jedenfalls behauptest du das immer.«

»Ich möchte einfach sichergehen, dass im Betrieb alles funktioniert, bevor ich niederkomme.«

Seufzend kam Klara an den Tisch. »Georg sieht es nicht gern, dass du immerzu dort bist.«

Helene nickte brummend. Im Gegensatz zu ihrer Mutter und ihrem Mann nahm sie ihre Schwangerschaft gelassen hin. Seit Georg sich vermehrt um den Außenhandel kümmerte, war sie oft allein mit ihrer Mutter in der Villa. Immer regelmäßiger blieb er auch über Nacht fort. Dann kam Helene das große Haus gespenstisch leer vor.

Das Abendessen wurde aufgetragen. Rindfleischsuppe mit Markklößchen und Hefebrötchen.

»Alfred und Eva sind von ihrer Kreuzfahrt zurückgekehrt«, durchbrach Klara die bedrückende Stille am Tisch. »Wir erwarten sie am Donnerstag zum Kaffee.«

»Da habe ich zu tun.«

»Du wirst es einrichten, Lenchen. Es ist längst an der Zeit, dass ihr eure Unstimmigkeiten beilegt. Wir sind doch eine Familie.«

Helene hob die Augenbrauen. »Ich bin nicht diejenige, die Alfred Böses will. Es ist umgekehrt.«

»So ein Unfug! Henri wollte nie etwas mit der Fabrik zu tun haben. Er hat sich gegen sie entschieden.«

»Und Alfred hat ihm die Anteile nur aus reiner Herzensgüte abgenommen?« Helene konnte ihren Zynismus nicht zügeln.

»Er hat ihm ein Angebot gemacht, und Henri befand es als recht.«

Helene legte ihren Löffel ab und seufzte tief. »Warum hat er nicht mit mir darüber geredet? Ich verstehe einfach nicht, wieso er mir nichts davon gesagt hat, dass er aussteigen will. Warum ausgerechnet Alfred?« Helene belastete die Tatsache, dass Henri wortlos nach Paris gegangen war – und das am Tag ihrer Hochzeit. Er, der stets ihr Lieblingsbruder und Verbündeter in der Familie gewesen war, hatte sich gegen sie gestellt, ohne dass sie wusste, warum.

»Er wird sich dir erklären, wenn er zurückkehrt, da bin ich sicher«, entgegnete Klara leise und trank einen großen Schluck Wein.

»Hast du etwas von ihm gehört?« Helene traute sich kaum mehr nachzufragen. Die Antwort würde doch nur wieder ernüchternd sein.

Klara säuberte sich mit ihrer Serviette die Mundwinkel, dann schüttelte sie den Kopf. Binnen Sekundenbruchteilen wechselte jedoch ihre Miene, und sie wirkte plötzlich vorfreudig. »Wir sollten allmählich die Taufe planen. Wie du weißt, sind nicht alle Gäste leicht abkömmlich, und es dauert sicher nicht mehr lang, bis das Kleine da ist.« Ihr Blick streifte Helenes Bauch.

Noch ist es nicht so weit. Noch nicht, widersprach Helene vehement in Gedanken. Innerlich war sie zerrissen und verspürte den Drang, die Zeit anzuhalten. Sie in den Wartemodus zu versetzen, bis ihr Bruder an ihre Seite zurückgekehrt war. Henri fehlte in ihrem Leben, in dem sich unverhofft so vieles zu ihren Gunsten entwickelt hatte. Inzwischen war sie neben Alfred Geschäftsführerin. Es war ihrem Engagement zu verdanken, dass die Umsätze trotz der Wirtschaftskrise gestiegen waren. Als wäre das nicht schon genug, erwarteten sie und Georg den ersehnten Nachwuchs. Manchmal schäumte Helene schier über vor Stolz. In den vergangenen sieben Jahren hatte sie allen bewiesen, dass auch eine Frau Großes schaffen konnte. Sie wurde in einer von Männern dominierten Branche akzeptiert. Allein der Umstand, dass Henri sich von der Familie, allen voran von ihr, abgewandt hatte, warf einen Schatten über ihr Glück. Dabei wünschte sie sich nichts mehr, als dass ihr jüngster Bruder die Patenschaft für ihr Kind übernehmen würde. Aber wie sollte sie sich ihm mitteilen, wenn niemand genau wusste, wo er sich momentan ...