Kapitel 1
Lilly stand am Fenster und beobachtete, wie sich die Dämmerung über die Stadt legte. Die Straßenlaternen flackerten auf und schickten ihr warmes Licht in die urigen Gassen, die Edinburgh Castle umgaben. Majestätisch thronte die Burg auf dem Castle Rock im Zentrum der Hauptstadt. Jeden Abend genoss Lilly diesen atemberaubenden Ausblick, den sie einer engagierten Krankenschwester namens Helen zu verdanken hatten. Diese hatte sich bei der Heimleiterin dafür eingesetzt, dass Lillys Mutter genau dieses Zimmer zugeteilt wurde – obwohl sie es sich nicht leisten konnte. Vermutlich war Mitleid der Grund für das Einlenken der ansonsten so strengen Nonne gewesen. Iris Warren war vor knapp zwei Monaten ins St.-Andrews-Pflegeheim gekommen, weil Lilly sich nicht mehr allein um sie kümmern konnte. Das Traurige daran war, dass es nicht an ihrer mangelnden Fürsorge lag, sondern daran, dass es Lilly durch ihre drei Jobs schlichtweg zeitlich nicht schaffte, ihrer schwer kranken Mutter gerecht zu werden. Geld war ein weiterer maßgebender Faktor.
Eigentlich ging es immer nur darum: Solange sie zurückdenken konnte, hatte ihre Familie zu wenig davon gehabt, und das war ein Umstand, der schon ihre Mutter zu einem Leben voll harter körperlicher Arbeit und ständiger Existenzsorgen verurteilt hatte. Nun zog er sich auch durch ihres. Es war wie ein Fluch, dem sie nicht entkommen konnte und dessen Ironie ihr so manches Mal die Tränen in die Augen trieb. Ihr Teilzeitjob im Blumenladen reichte gerade so für die Miete. Um über die Runden zu kommen, kellnerte sie nachmittags in einem Café, an den Wochenenden arbeitete sie zusätzlich in einer Bar. Manchmal hatte sie nicht mehr als zwei Stunden Zeit für den Haushalt, die Einkäufe und den täglichen Besuch bei ihrer Mutter, die nicht bemerken sollte, wie ausgelaugt Lilly war. Niemand wusste, wie viel Zeit Iris noch blieb, deren sanfte Stimme sich nun in Lillys Gedanken drängte.
»Seit wann bist du hier?«
Lilly drehte sich zu ihr um. »Noch nicht sehr lange. Ich wollte dich nicht aufwecken. Du hast so friedlich geschlafen.« Sie kam an ihr Bett.
»Du darfst mich ruhig wecken«, sagte ihre Mutter und nahm ihre Hand. »Das weißt du doch. Ich kann später noch genug schlafen. Hier passiert nicht sonderlich viel, bei dem es sich lohnen würde, wach zu bleiben. Es sei