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Das Zuhause war ein kleines gelbes Häuschen in einer leeren Straße. Es hatte etwas Entmutigtes an sich, aber daran war Naomi gewöhnt. Die junge Mutter, die ihr die Tür öffnete, war zierlich und sah viel älter aus, als sie war. Ihr Gesicht wirkte angespannt und müde.
»Die Kinderfinderin«, stellte sie fest.
Sie setzten sich auf eine Couch in einem leeren Wohnzimmer. Naomi registrierte einen Stapel Kinderbücher auf dem Tisch neben einem Schaukelstuhl. Garantiert war das Zimmer des Kindes noch genau wie zuvor.
»Es tut mir leid, dass wir nicht früher von Ihnen gehört haben«, sagte der Vater, der in einem Sessel am Fenster saß und seine Hände gegeneinanderrieb. »Wir haben alles versucht. So viel Zeit ist …«
»Sogar eine Hellseherin«, fügte die junge Mutter mit einem gequälten Lächeln hinzu.
»Man sagt, Sie sind die Beste darin, verschwundene Kinder aufzuspüren«, setzte der Mann nach. »Ich wusste nicht mal, dass es Ermittler gibt, die das tun.«
»Nennen Sie mich Naomi«, bat sie.
Die Eltern musterten sie: kräftig gebaut, gebräunte Hände, die aussahen, als wüssten sie, was Arbeiten heißt, langes braunes Haar, ein entwaffnendes Lächeln. Sie war jünger, als sie erwartet hatten – sicher nicht älter als Ende 20.
»Woher wissen Sie, wie man sie findet?«, fragte die Mutter.
Sie schenkte ihnen das strahlende Lächeln. »Weil ich weiß, was Freiheit ist.«
Der Vater blinzelte. Er hatte von ihrer Vorgeschichte gelesen.
»Ich würde gern ihr Zimmer sehen«, sagte Naomi nach einer Weile und stellte ihren Kaffee ab.
Die Mutter führte sie durchs Haus, während der Vater im Wohnzimmer blieb. Die Küche sah steril aus. Da stand eine altmodische Keksdose, deren Rand Staub angesammelt hatte: Auf dem dicken Bauch standOmas Plätzchen. Naomi fragte sich, wann diese Oma wohl zum letzten Mal zu Besuch gewesen war.
»Mein Mann findet, ich sollte wieder arbeiten gehen«, sagte die Mutter.
»Arbeiten ist gut«, gab Naomi sanft zurück.
»Aber ich kann nicht«, sagte die Mutter, und Naomi verstand. Du kannst dein Haus nicht verlassen, wenn dein Kind jeden Augenblick zurückkommen könnte.
Die Tür führte in ein Zimmer voller Traurigkeit. Ein schmales Bett mit einer Tagesdecke mit Disney-Motiven. Eine Reihe von Bildern an der Wand: fliegende Enten.MADISONS ZIMMER, stand in Klebebuchstaben über dem Bett. Dann gab es noch ein kleines Bücherregal und einen größeren Schreibtisch, auf dem ein Durcheinander aus Kulis und Filzstiften herrschte.
Über dem Schreibtisch hing eine Lesetabelle von ihrer Vorschullehrerin.SUPERLESERIN, stand dort. Für jedes Buch, das Madison im Herbst, bevor sie verschwunden war, gelesen hatte, gab es einen goldenen Stern.
Es roch nach Staub und abgestandener Luft – der Geruch eines Zimmers, das seit Jahren unbewohnt geblieben war.
Naomi trat an den Schreibtisch heran. Madison hatte gezeichnet. Naomi konnte sich vorstellen, wie sie von ihrer Zeichnung aufstand und zum Auto hinausrannte, während ihr Vater ungeduldig nach ihr rief.
Es war ein Bild eines Weihnachtsbaums voller schwerer roter Kugeln. Daneben stand eine Gruppe Figuren: eine Mama und ein Papa mit einem kleinen Mädchen und einem Hund. Meine Familie, verkündete die Bildunterschrift. Eine typische Zeichnung für ein kleines Kind, mit großen Köpfen und Strichmännchen. Naomi hatte Du