: Kerstin Herrnkind
: Den Drachen jagen Die Geschichte meines verlorenen Bruders
: Edition W
: 9783949671517
: 1
: CHF 15.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Es ist spätabends, als es bei Kerstin Herrnkind an der Haustür klingelt. Zwei Polizisten stehen vor der Tür. Die Journalistin ahnt Schlimmes. Und richtig. Ihr Bruder Uwe ist tot aufgefunden worden. Gestorben an einem Mix aus Heroin, Alkohol und Medikamenten. Fast fünfundzwanzig Jahre war er drogensüchtig. Mutter, Schwester und Freunde haben alles versucht, um ihm zu helfen. Ihn aufgenommen, in der Therapie besucht, ihm Jobs besorgt und ihm doch immer wieder Geld gegeben, weil es nicht auszuhalten war, wie er litt, wenn er einen Affen schob. Nach seinem Tod bleibt eine große Traurigkeit über den verlorenen Bruder, den verlorenen Sohn, den verlorenen Freund. Im Trauerjahr schreibt seine Schwester, die nie über ihren Bruder schreiben wollte, ein Buch über den verlorenen Kampf. Lässt ihre Mutter erzählen, spricht mit Weggefährten und Leidensgenossen. Spürt den Ursachen seiner Sucht nach. Einer Kindheit auf dem Land, hinter gestärkten Gardinen, in einem Elternhaus, das jedes Jugendamt für ideal befunden hätte.

Kerstin Herrnkind wurde 1965 in Bremen geboren. Nach dem Studium volontierte sie bei der"Nordsee-Zeitung" und ging zur"taz". 1999 wechselte sie zum"Stern", wo sie seither als Reporterin arbeitet. Sie ist Autorin mehrerer Sachbücher und zweier Krimis. 2016 wurde sie mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. Kerstin Herrnkind wohnt in Lübeck und Hamburg.

Trauerfeier


Als der Wecker am nächsten Morgen um Viertel vor sechs klingelte, hatte ich nicht geschlafen, war nur, benebelt vom Rotwein, kurz weggedöst. Wie elend ich mich fühlte, kann ich nicht beschreiben. Irgendwie schaffte ich es aus dem Bett und unter die Dusche. Griff in den Kleiderschrank, fuhr ins Büro und wunderte mich, dass ich ankam.

Die Facebook-Nachricht war eine gute Idee gewesen. Ich musste niemandem erklären, warum ich so schlecht aussah. Meine Kolleginnen und Kollegen umarmten mich auf dem Flur oder im Fahrstuhl. Das Angebot meiner Ressortleiterin, zu Hause zu bleiben, schlug ich aus. Was sollte ich dort? Rotwein trinken und heulen?

In den nächsten Tagen funktionierte ich wie ein Roboter, ging zur Arbeit, versuchte, mich zu konzentrieren, doch immer war da dieser Schmerz in der Brust. Draußen war es düster, kalt und grau. Februar halt. Als Norddeutsche ist man Demut in Sachen Wetter gewohnt. Doch in den Tagen nach Uwes Tod setzte mir die Dunkelheit zu.

Meine Mutter hatte sich sofort auf den Weg nach Deutschland gemacht. Am Telefon erzählte sie mir, dass Uwe sie einen Tag vor seinem Geburtstag angerufen habe. »Ich wollte nur mal deine Stimme hören«, hatte er gelallt. Seltsam. An seinem Geburtstag erreichte sie ihn gegen Mittag, gratulierte ihm. »Ich knall mir jetzt einen. Und wenn’s vorbei ist, ist auch gut«, sagte er und lachte. Mein Mutter hielt es für einen schlechten Scherz. Jetzt, da Uwe tot war, bekamen seine Worte eine Bedeutung. Hatte er sich umgebracht?

Meine Mutter war zu durcheinander, um die Bestattung zu organisieren. Mir dagegen tat es gut, es lenkte mich ab.

Ich wollte eine kleine Trauerfeier für Uwe ausrichten. Pepsi, Uwes alter Schrauberkumpel, der vor Jahren mit mir den letzten Versuch unternommen hatte, ihm ein cleanes Leben zu ermöglichen, wollte sich von Uwe verabschieden. Er hatte meinen Facebook-Post gelesen und sich gemeldet. Miriam, die Sozialarbeiterin aus dem Obdachlosenheim, schrieb mir: »Wir sind alle sehr betroffen, da wir Uwe im Laufe der Jahre doch sehr ins Herz geschlossen haben. Sein üblicher Spruch zu mir: ›Gaar nischt loos‹, wird mir, glaub ich, immer in Erinnerung bleiben«.

Trotz der Vorbereitungen, die ich traf, konnte ich noch immer nicht begreifen, dass Uwe tot war, fühlte mich wie im Film, sah, wie er mir an der U-Bahn einen Handkuss zuwarf. Ich wollte, ja ich musste ihn noch ein letztes Mal sehen.

Im Internet suchte ich nach alternativen Bestattern. Mit Unbehagen dachte ich an die Trauerfeier meiner Großmutter Helene vor über 20 Jahren. Der Pfarrer nutzte die Beerdigung als Bühne für seine göttliche Botschaft, die niemand hören wollte. Seine Rede hatte nichts mit Helene zu tun. Sie war über 90 geworden, hatte zwei Weltkriege überlebt, früh geheiratet, nachdem ihre große Liebe, ein Taucher, ertrunken war. Sie bekam vier Kinder, von denen drei überlebten, putzte auf der Werft und anderswo. Ihr Leben war Kampf. Mit einem Ehemann, der sie schlug und das Geld versoff. Ein beengtes Frauenleben.

Vielleicht interessierte sie sich deshalb so für Politik, wählteSPD und nie eine andere Partei, bekam Bauchschmerzen, als ich geboren wurde, zeigte meine Geburt als »Putzfrau« beim Standesamt an, was mein Vater Jahre später mit einem schwarzen Edding vertuschte, weil er sich für den Beruf seiner Schwiegermutter schämte. Und verhindern wollte, dass ich als Enkelin einer Putzfrau Nachteile bekommen würde. Es war die Zeit, in der im K