2.
Der Wecker am nächsten Morgen schickte sich an, das gesamte Haus aus den Betten zu klingeln, bevor Nele wach genug war, um ihn zum Schweigen zu bringen. Yoly hatte Nele angeboten, sie könne schlafen, solange sie wolle, doch Nele hatte energisch den Kopf geschüttelt. Schließlich war sie keine Urlauberin, sondern zum Arbeiten und Lernen hier. Als Praktikantin bekam sie kein Gehalt, aber freie Kost und Logis und zudem alles Wissenswerte über Alpakas vermittelt. So lautete der Deal, den sie mit Eduardo ausgehandelt hatte.
Sie stand auf, packte das Nötigste aus und freute sich erst mal auf eine Dusche. Nach den zwei schweißtreibenden Anfahrtstagen stellte sie ihr Deo inzwischen auf eine harte Probe. Aus Adriáns Zimmer war noch nichts zu hören. Gut. So konnte sie vor ihm im Bad sein. Mit dem Kulturbeutel in der einen und frischer Unterwäsche in der anderen Hand huschte sie über den Flur, riss die Tür auf – und blieb abrupt stehen. Ihr Mund klappte auf, und sie musste sich zwingen, ihn wieder zu schließen.
Vor ihr stand Adrián – fast nackt, bis auf ein um die Hüften gewickeltes Handtuch. Wasser tropfte aus seinen Haaren, landete auf den Schultern und perlte über seine Brust. Über seine ausgesprochen muskulöse Brust, wie Nele registrierte. Gleiches galt für den Bauch. Auch hier glitzerten Tropfen auf einem angedeuteten Sixpack. Ihr Blick folgte den seitlichen Muskelsträngen ein wenig tiefer.
Ein belustigter Laut machte ihr bewusst, was sie da tat, und Hitze schoss ihr ins Gesicht.
»Hab vergessen, dass ich nicht mehr allein bin«, erklärte Adrián knapp. »Muss mich erst daran gewöhnen abzuschließen.« Er drängte sich an ihr vorbei. So nah, dass sich ihre Körper beinahe berührten und ihr sein Geruch – männlich mit einer würzigen Duschgelnote – in die Nase stieg. Waren seine Bewegungen absichtlich langsam, geschmeidig und aufreizend, um sie schon wieder zu provozieren – diesmal auf eine andere Art?
Doch als sie den Kopf hob, war seine Miene unnahbar wie gestern auch. Das intensive Blau der Iriden war von der Temperatur eines kalten Bergsees. Trotzdem pochte ihr Herz, und ihr Gesicht wurde noch wärmer. Ein kurzes Zucken der Mundwinkel bewies, dass Adrián ihre Reaktion zu allem Überfluss bemerkt hatte. Hastig flüchtete sie ins Bad und schloss die Tür etwas fester als nötig.
Obwohl sie sich unter der Dusche beeilt hatte und die Treppe hinuntergerannt war, saß die Familie schon vollzählig am Frühstückstisch, als Nele die Küche betrat. In einer Ecke lief der Fernseher ohne Ton. Ein Morgenmagazin, das niemand beachtete.
Bei Yoly, Adrián und den Kindern saßen zwei weitere Männer am Tisch. Den Mittfünfziger erkannte Nele sofort als Adriáns Vater Eduardo. Mit den leicht ergrauten Schläfen sah er aus wie eine ältere – und gemessen an seinem Lächeln auch freundlichere – Ausgabe seines Sohnes.
Der Mann neben Yoly musste Adriáns Bruder Leis sein. Er war jünger als Adrián und einige Zentimeter kleiner. Bereits durch seine kurzen schwarzen Haare und die dunklen Augen unterschied er sich von seinem Bruder, außerdem fiel auch sein Lächeln deutlich netter aus.
»Unser Gast aus Deutschland!« Eduardo stand auf, begrüßte sie mit einem Wangenkuss und stellte sich und Leis vor. »Die anderen hast du ja gestern schon kennengelernt.« Er wies auf den freien Platz. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen und nun Appetit auf ein reichhaltiges Frühstück.«
Nele nickte und rutschte auf ihren Stuhl. Sie hatte es nicht geschafft, zum Abendessen noch einmal aus dem Bett zu kriechen. Nach ihrer inneren Uhr war es mitten in der Nacht ge