: Ina von Hochried
: Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 472 Wo du einst Herrin warst
: Verlagsgruppe Lübbe GmbH& Co. KG
: 9783732586813
: 1
: CHF 1.60
:
: Erzählende Literatur
: German
: 64
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Wo du einst die Herrin warst
Eine Frau geht tapfer ihren Schicksalsweg

W e eine Diebin huscht Delia Komtess von Rhede mitten in der Nacht durch die dunklen Gänge des Schlosses, wo sie einst Herrin war. Sie kennt hier jeden Winkel, und der Schlüssel zur alten Berghütte ist schnell gefunden. Nur allein diese Hütte ist ihr geblieben, denn nach dem Tod ihres hoch verschuldeten Vaters kam der gesamte Besitz unter den Hammer.
Delias Versuch, in der Stadt Fuß zu fassen, ist kläglich gescheitet. Sie war gezwungen, jede Arbeit anzunehmen, und wurde beschimpft, beleidigt und gedemütigt. Nun will sich die schöne Komtess für immer in der einsamen Berghütte vor der Welt zurückziehen ...

Wo du einst die Herrin warst

Eine Frau geht tapfer ihren Schicksalsweg

Wie eine Diebin huscht Delia Komtess von Rhede mitten in der Nacht durch die dunklen Gänge des Schlosses, wo sie einst Herrin war. Sie kennt hier jeden Winkel, und der Schlüssel zur alten Berghütte ist schnell gefunden. Nur allein diese Hütte ist ihr geblieben, denn nach dem Tod ihres hoch verschuldeten Vaters kam der gesamte Besitz unter den Hammer.

Delias Versuch, in der Stadt Fuß zu fassen, ist kläglich gescheitert. Sie war gezwungen, jede Arbeit anzunehmen, und wurde beschimpft, beleidigt und gedemütigt. Nun will sich die schöne Komtess für immer in der einsamen Berghütte vor der Welt zurückziehen …

Delias dunkle verschleierte Augen wanderten über den Kamin zu dem großen Bild ihres Vaters empor. Graf von Rhede hatte eine Hand auf den Schreibtisch gestützt, sein Blick schien in die Unendlichkeit zu gehen. Das Gesicht mit der scharfen Nase verriet Würde, Energie und Tradition.

Delia, die Tochter dieses Mannes, wusste seit ein paar Minuten, dass der Ausdruck dieses Männergesichtes nichts als Schein war, Werk eines Malers, idealisierte Wirklichkeit.

Man hätte den Ausdruck der Mädchenaugen in diesem Moment nicht deuten können. Klagten sie den Vater an? Machten sie ihm Vorwürfe? Vergaben sie ihm, weil sein Tod vor zwei Monaten alle Schuld, alles Versagen ausgelöscht hatte?

Das Antlitz auf dem Bilde verschwamm vor den Augen des Mädchens. Die Konturen begannen zu verfließen, sie lösten sich auf.

Die Blicke des Mädchens wanderten zurück und blieben an dem besorgten Gesicht jenes Mannes hängen, aus dessen Mund Komtess Delia eben alles erfahren hatte. Sein kahler Kopf war gesenkt, das Monokel baumelte an seinem Rockaufschlag.

„Und was wird nun, Baron Zagau?“, fragte Delia.

Der Baron erschrak ein bisschen und fuhr aus seiner Versunkenheit empor. Er suchte mit fahriger Hand nach dem Monokel und klemmte es ins Auge.

„Tja, gnädigste Komtess, ich als Ihr Vermögensverwalter wäre mehr als glücklich, wenn ich Ihnen etwas anderes sagen könnte, aber die Dinge liegen nun einmal so, wie ich sie soeben angedeutet habe.“

„Und was soll ich tun?“

Der Baron neigte sich über die Papiere, die er bei seinem Kommen ausgebreitet hatte.

„Sie brauchen mich nicht zu schonen, Baron.“

Der Baron glaubte in diesem Augenblick, in den Augen des Mädchens den gleichen Ausdruck sehen zu können, den er aus den Augen des Grafen in Erinnerung hatte. Es war eine merkwürdige Mischung aus Stolz, Wärme, aufrechter Haltung und leisem Spott. Spott der ganzen Welt gegenüber, die man nicht fortleugnen konnte, die man aber auch nicht ernst genug nahm.

Zagau verneigte sich in seinem Sessel.

„Sie sind Ihres Namens würdig, Komtess von Rhede! Deshalb bin ich sicher, dass die Umstände Sie nicht aus der Fassung bringen werden.“

Das Mädchen senkte für einen Augenblick die Augenlider. Wenn diese Szene doch nur schon vorüber wäre!

„Wie ich Ihnen eben schon auseinandersetzte, Komtess, sind nach all den geschilderten Vorgängen die Schulden Ihres seligen Herrn Vaters so hoch angewachsen, dass deren Deckung aus den vorhandenen Barmitteln und aus den für die nächsten Jahre zu erwartenden Einkünften nicht mehr erfolgen kann.“

„Die Schulden müssen aber bezahlt werden, nicht wahr?“

„Ja.“

„Das muss ich tun?“

„Sie sind, da Ihre Frau Mutter nicht mehr ist und andere direkte Erben nicht vorhanden sind, als Alleinerbin Rechtsnachfolgerin für den Grafen. Das gilt für seine Ansprüche, das gilt aber auch für seine Verpflichtungen.“

Delia nickte. Ihr schönes ebenmäßiges Gesicht, in dem sich der Adel kostbaren Blutes und die Frische der blühenden Jugend zu einem hinreißenden Bild zusammenfügten, war blass.

„Selbstverständlich werde ich alles daransetzen, die Schulden so bald wie möglich zu bezahlen. Sagen Sie das bitte den Gläubigern, Baron.“

„Die Gläubiger haben sich bereits zusammengetan und ganz präzise Forderungen erhoben. Aus diesem Grunde bin ich hier.“

„Welche Forderungen?“

„Sie verlangen Begleichung der Schulden binnen Monatsfrist.“

„Steht dem etwas entgegen, Baron?“

„Leider, Komtess. Die Forderungen übersteigen die vorhandenen Mittel um ein Mehrfaches.“

„Haben Sie das den Gläubigern gesagt?“

„Selbstverständlich. Ich habe den Herren gesagt, dass nach dem Tode des Grafen eine besondere Situation entstanden ist, die gewisse Rücksichten erfordert.“

„Rücksichten?“

„Auf Sie, Komtess.“

Die Lippen des Mädchens wurden schmal.

„Ich will nicht, dass man auf mich Rücksicht nimmt. Ich will, dass diese Schulden beglichen werden.“

„In diesem Punkte, Komtess, treffen sich Ihre Absichten mit denen der Gläubiger.“ Er zog ein Blatt Papier heraus. „Ich habe mir erlaubt, bereits eine entsprechende Berechnung aufzustellen, Komtess.“

„Bitte, Baron …“

Er holte tief Luft.

„Ich fürchte, dass es sich nicht vermeiden lassen wird, den Besitz zu verkaufen, Komtess“, sagte er dann mit gepresster Stimme.

Der Herzschlag des Mädchens setzte für eine Sekunde aus.

„Den … ganzen Besitz …?“

„Ja. Die daraus zu erwartenden Mittel werden eben ausreichen, um die Verpflichtungen zu erledigen.“

„So viel ist das?“

„Ja, ich kann leider nichts anderes sagen.“

Delia schloss die Augen. Ihre Hände krampften sich ineinander. Die Augen öffneten sich wieder, sie waren übernatürlich klar, sie glänzten wie in einer Krankheit.

„Was bleibt mir, Baron?“ Die Stimme war kaum mehr als ein tonloses Flüstern.

„Allenfalls zwanzig- oder dreißigtausend Mark.“

„Von dem ganzen Besitz?“

„Ja.“

„Sie sind sicher?“

„Ich irre mich kaum – leider.“

Delia blickte auf die verschlungenen Muster des kostbaren Teppichs.

„Zwanzigtausend Mark, das ist ja auch eine ganze Menge, nicht wahr?“

„Gewiss … Für Sie jedoch …“

„Es gibt viele Menschen, die solch eine Summe noch nie besessen haben.“

„Ja, Komtess.“

„Ich werde mich eben einschränken müssen, Baron. Ich hatte eine glückliche, sorgenfreie Jugend. Ich lebte im Luxus. Ich nahm alles als selbstverständlich hin. Vielleicht zu selbstverständlich …“

Baron Zagau schmerzte es tief, diese Ergebenheit des Mädchens ansehen zu müssen. Wenn sie geweint, wenn sie gejammert hätte, wäre es vielleicht leichter zu ertragen gewesen.

„Komtess, falls ich mir ein persönliches Wort erlauben darf …“

„Bitte?“

„Ich möchte Sie an Ihre Verwandten erinnern, die – soviel ich weiß – sämtlich in glänzenden Verhältnissen leben.“

„Meine Verwandten?“ Delias Stimme war so erstaunt, als höre sie in diesem Augenblick zum ersten Mal von ihren entfernten Angehörigen.

„Ich meine, es wäre den Herrschaften doch ein leichtes, mit Hilfe einer Umlage die schlimmsten Folgen für Sie abzuwenden!“

Delias Augen wurden starr.

„Sie meinen, sie sollen Vaters Schulden bezahlen?“

„Ist das nicht verwandtschaftliche Pflicht?“

„Nein, Baron, das ist einzig und allein meine Sache.“

„Komtess, ich bewundere Ihren Stolz, aber Sie sollten überlegen, dass Sie sich nicht deswegen ruinieren können.“

„Ich bin nicht ruiniert. Ich behalte eine hübsche Summe. Und schließlich bin ich selbst ja auch noch da. Von meinen Verwandten will ich nichts, nicht einen Pfennig.“

„Vielleicht könnte ich trotzdem einmal vorfühlen. Ich meine …“

„Nein! Vater hat mit der Verwandtschaft nicht gutgestanden. Ich bin die Erbin, also bin ich verpflichtet, alles zu regeln. In dieser Frage brauchen wir kein Wort mehr zu verlieren.“

„Wie Sie wünschen.“

„Gibt es sonst noch etwas, Baron?“

„Ich benötige Ihre Vollmachten, Komtess.“

„Ich unterschreibe.“

Der Baron suchte ein paar Papiere heraus, und Delia setzte ihren Namen unter die Texte. Der Baron war damit ermächtigt, in ihrem Namen den gesamten beweglichen und festen Besitz zu veräußern. Die daraus einkommende Summe sollte zur Begleichung der vorhandenen Schulden, die hoch in die Millionen gingen, dienen. Der Rest sollte Delia zugutekommen und ihr zur freien Verwendung stehen.

Eine halbe Stunde später, nachdem Delia dem Baron noch eine Tasse Kaffee aufgezwungen hatte, verließ er sie. Es kam ihm vor, als habe er soeben ein Begräbnis hinter sich.

So war es letzten Endes auch. Der Besitz der Grafen Rhede, ein großes Gut mit prachtvollen Feldern,...