Dass Wildmuth Graf von Wildenberg eigenhändig seinen Bruder Roderich in den Grundfesten der trutzigen Burg einmauerte, ist bis auf den heutigen Tag in einer alten Chronik überliefert, die freilich kaum mehr zu lesen ist.
Das grausige Geschehen spielte sich im Jahre 1386 ab.
Die beiden Brüder hatten sich nie recht verstanden. Graf Wildmuth war ein jähzorniger, herrschsüchtiger Mann, der keinen Widerspruch duldete und jeden Menschen, der ihm in den Weg kam, als seinen Untertan betrachtete. Graf Roderich hingegen konnte lesen und schreiben, weshalb er in den Augen seines Bruders als verrückt galt, und außerdem sagte man von ihm, dass er das Zweite Gesicht habe.
Daher war es nicht verwunderlich, dass Graf Wildmuth die sich bietende Gelegenheit sofort ergriff, sich seines ungeliebten Bruders zu entledigen.
Graf Wildmuth war mit einer zarten, stillen Frau verheiratet. Er hatte sie nie geliebt. Es war fast natürlich, dass diese Frau, die unter der Willkür ihres Mannes genauso litt wie alle anderen Menschen in seiner Umgebung, sich dem sanfteren Bruder Roderich zuwandte. Ein unglücklicher Zufall wollte es, dass Graf Wildmuth seinen Bruder und seine Frau in zärtlicher Umarmung antraf. Damit war das Schicksal der beiden Liebenden besiegelt.
Graf Wildmuth sperrte seinen Bruder in ein unterirdisches Verlies, kettete ihn an und gab ihm – als Gnadenbeweis, weil er ja immerhin sein Bruder war – ein paar Talglichter und Wasser und Brot für zwei Tage. Dann mauerte der Graf den Ausgang zu, und es war allen Burgbewohnern bei sofortiger Todesstrafe verboten, sich dem Mauerwerk zu nähern. Seine Frau ließ der grausame Graf von den Hunden aus der Burg jagen. Man hat nie mehr etwas von ihr gehört. Es ging das Gerücht, dass sie den Wölfen zum Opfer gefallen sei, die damals noch die schier endlosen Wälder unsicher machten.
Aus Hohn hatte Graf Wildmuth seinem Bruder auch Schreibzeug und Pergament auf den unvermeidlichen Weg in die Ewigkeit mitgegeben.
»Jetzt kannst du schreiben, bis die Feder dir aus den Fingern fällt«, hatte der Graf gehöhnt.
Graf Roderich schrieb, doch niemand hat die Pergamente je zu Gesicht bekommen. So kam es, dass bis auf den heutigen Tag auch eine Weissagung unbekannt geblieben ist, die Graf Roderich beim verlöschenden Schein seines letzten Talglichtes zu