: Voltaire
: Candide oder der Optimismus
: marixverlag
: 9783843801379
: 1
: CHF 6.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
I t die Welt, in der wir leben, tatsächlich, wie Leibniz behauptet, 'die beste aller möglichen', oder ist sie ein Ort, aus dem Gott sich längst zurückgezogen, ja mehr noch, den er nie betreten hat? Am Beispiel des einfältigen Candide beantwortet Voltaires auf den Index gesetzte Romansatire diese Fragen mit der radikalen Demontage von Leibniz' philosophischem Optimismus, denn Candide erlebt auf seiner abenteuerlichen Reise die infernalischsten Schrecken und absurdesten Zufälle. Geläutert kommt er am Ende zu der Erkenntnis, dass dem Menschen letztlich nichts bleibt, als ,seinen Garten zu bestellen'.

Der französische Schriftsteller und Philosoph Voltaire (François Marie Arouet, 1694-1778) ist die bedeutendste Persönlichkeit der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. In seinen philosophischen und literarischen Werken formulierte er die Werte der Vernunft, Toleranz, Menschenrechte und Menschenwürde. Er setzte sich vehement für das Verbot der Leibeigenschaft ein und engagierte sich mehrfach in Justizverfahren, die durch religiösen Fanatismus einseitig beeinflusst wurden. Da ihm in Paris die Beisetzung verweigert wurde, beerdigte man Voltaire in Sellières. Als die Revolution ab 1789 tobte, verlegte man den Verstorbenen 1791 ins Panthéon. Auch das Herz des Philosophen wurde konserviert und wird in der Bibliothèque Nationale aufbewahrt.

ZWÖLFTES KAPITEL


Die Alte erzählt ihren Leidensweg (II)

Ich war erstaunt, ja entzückt, meine Muttersprache zu hören; nicht minder aber befremdete mich,was der Mann da eben geäußert hatte. So antwortete ich ihm, es gebe ärgeres Unheil als jenes, über das er sich beklage. In wenigen Worten tat ich ihm die Schrecknisse kund, die ich durchgemacht hatte, und das nahm mich derart mit, dass ich gleich wieder in Ohnmacht fiel. Der Mann trug mich in ein nahe gelegenes Haus, sorgte, dass ich schlief und aß, bediente mich sogar selbst, tröstete mich und liebkoste mich mit Schmeicheleien. Nie habe er so etwas Schönes gesehen wie mich, sagte er, und nie habe er so stark vermisst, was er nun leider nicht mehr habe und was ihm auch keiner je wiederzugeben vermöge. ›Ich bin in Neapel geboren‹, erzählte er mir; ›dort werden jährlich zwei-, dreitausend Knaben zu Kapaunen verschnitten. Ein paar davon sterben; andere können später schöner singen als jede Frau; wiederum andere gehen in die Politik und bringen es bis zum Gouverneur eines Staates. Bei mir hatte die Operation außerordentlichen Erfolg. Ich wurde Chorist in der Kapelle Ihrer Durchlaucht der Fürstin von Palestrina‹, ›Meiner Mutter!‹, rief ich. ›Eurer Mutter?‹, fragte er verwundert zurück. Dann begann er zu weinen und fragte: ›Wie! Ihr wäret die kleine Prinzessin, die ich bis zu ihrem sechsten Jahre betreut habe, und die damals schon so wunderschön zu werden versprach, wie Ihr es heute seid?‹ ›Ja, die bin ich. Meine Mutter liegt vierhundert Schritt von hier in vier Stücke gehauen unter einem Leichenhaufen.‹

Ich erzählte ihm alles, was mir geschehen war; und auch er erzählte mir sein ebenfalls recht abenteurreiches Schicksal. Eine christliche Großmacht hatte ihn zum König vom Marokko gesandt, um mit diesem einen Vertrag zu schließen. Darin wurde dem heidnisch