Frau von Kroneck fixierte das vor ihr stehende junge Mädchen anmaßend, aber Maria Jung hielt den Blick ohne Wimpernzucken aus. Nur ihre Lippen pressten sich etwas fester aufeinander. Wenn Frau von Kroneck ehrlich sein wollte, hätte sie sagen müssen: „Unter allen Bewerberinnen um die von mir ausgeschriebene Stelle war nicht eine, die ein so niedriges Gehalt forderte und die mir nur im Geringsten zugesagt hätte, und deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie zu engagieren, obwohl ich Bedenken habe, jemanden, der so schön und vornehm aussieht wie Sie, ins Haus zu nehmen.“
Aber sie war nicht ehrlich. Ebenso wenig sagte sie Maria Jung, dass es bei ihr nie eine „Stütze“ länger als einige Wochen aushielt.
Maria Jung wusste das nicht. Aber auch wenn sie es gewusst hätte, wäre ihr nicht der Gedanke gekommen, die ihr gebotene Stellung zurückzuweisen; sie sandte heimlich ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie engagiert werden möge.
Sie neigte den feinen Kopf. „Ich würde mir viel Mühe geben, mir Ihre Zufriedenheit zu erwerben, wenn Sie den Versuch mit mir machen, gnädige Frau“, sagte sie in bescheidener Haltung, die seltsam mit ihrer vornehmen Erscheinung kontrastierte. Frau von Kroneck war längst entschlossen, Fräulein Jung zu engagieren, aber sie konnte es sich nicht versagen, noch einige Bemerkungen zu machen.
„Ich muss allerdings erwarten, dass Sie sich eifrig bemühen, mir alles recht zu machen. Ich kann nur tüchtige Leute brauchen. Es ist immerhin ein Wagnis, Sie zu engagieren, weil Sie eine ähnliche Stellung noch nicht hatten.“
„Gnädige Frau, mit gutem Willen lernt sich alles.“
„In einer festen Stellung waren Sie also überhaupt noch nicht?“
„Nein. Seit ich erwachsen bin, war meine Mutter so leidend, dass ich sie nicht allein lassen konnte. Ich musste unseren Unterhalt auf andere Weise verdienen. Hier und da half ich in Familien, in denen ich die Kinder unterrichtete, auch im Haushalt, wenn einmal eine Aushilfe gebraucht wurde. Ich tat alles, womit ich etwas verdienen konnte und was mich nicht lange von meiner Mutter entfernte. So habe ich allerlei gelernt und hoffe, Sie zufrieden stellen zu können.“
„Wer bürgt mir dafür, dass Sie Ihre Stellung bei mir nach kurzer Zeit nicht wieder aufgeben?“ „Das brauchen Sie nicht zu befürchten, gnädige Frau. Ich werde froh sein, wenn ich bei Ihnen Unterhalt finde – denn für mich ist es doppelt schwer, Stellung zu finden.“
„Warum?“
„Das muss ich Ihnen sagen, ehe Sie endgültig mit mir abschließen. Vielleicht verzichten auch Sie auf meine Dienste, wenn ich Ihnen diese Eröffnung mache.“
Frau von Kroneck machte ein unbehagliches Gesicht. „Was haben Sie mir zu sagen?“, fragte sie.
Maria Jung reckte ihre schlanke Gestalt, als müsse sie sich gegen einen unsichtbaren Feind zur Wehr setzen. Ihr feines Gesicht wurde bleich, die Lippen zuckten in verhaltener Erregung. „Ich muss Ihnen sagen, dass ich die Tochter eines Mannes bin, der, wenn auch schuldlos – im Zuchthaus endete.“
Frau von Kroneck fuhr auf.
„Mein Gott! Im Zuchthaus? Das ist ja entsetzlich!“
„Ja, gnädige Frau, es ist entsetzlich“, sagte Maria tonlos.
„Was hat er denn begangen?“
„Man hat meinen Vater des Mordes angeklagt und verurteilt, weil ein unglückseliger Zufall ihn schuldig scheinen ließ. Ich war damals ein Kind von sechs Jahren und kann mich nur undeutlich an jene furchtbare Begebenheit entsinnen. Von Mutter, die unsagbar darunter gelitten hat, habe ich alles erfahren. Sie schwor bis zu ihrem Tod auf die Unschuld meines Vaters, wie auch er seine Unschuld stets beteuerte, bis er als ein seelisch und körperlich gebrochener Mann frühzeitig starb. Und wie meine Mutter, so glaube auch ich fest an die Unschuld meines Vaters.“
„Das ist freilich – hm, man erschrickt, wenn man so etwas hört, und man – aber …“ Sie überlegte. Man konnte sich ja diese Geschichte einmal erzählen lassen. Natürlich suchte die Tochter den Vater unschuldig hinzustellen – aber es gab auch Justizirrtümer.
Frau von Kroneck sonnte sich im Gefühl echter Menschenfreundlichkeit und berechnete zugleich, dass man dieser Stütze viel mehr aufpacken konnte, als jeder anderen und sie nicht so leicht davonlaufen würde, wenn ihr etwas nicht passte. Schließlich sagte sie: „Wollen Sie mir einmal in kurzen Worten erzählen, wie es kam, dass ihr Vater eines solchen Verbrechens angeklagt wurde?“
Maria Jung atmete auf. „Das will ich gern tun, gnädige Frau“, erwiderte sie. Sie stand noch immer, da Frau von Kroneck es nicht für nötig gefunden hatte, ihr einen Platz anzubieten.
Maria berichtete mit verhaltener Stimme: „Mein Vater war bei einem großen Eisenwerk als Ingenieur angestellt, als er meine Mutter heiratete. Er füllte seinen Posten zur Zufriedenheit seiner Brotgeber aus, und meine Eltern lebten glücklich und sorglos. Aber Vater hatte in Oberingenieur Brinkmann einen Vorgesetzten, der ihm feindlich gesinnt war. Weil mein Vater durch seine Tätigkeit und