Kapitel 1
»Ist dir etwa kalt, Junge?«
Alain Verlains Stimme hatte diesen unverwechselbaren Klang, vordergründig war da nur Ironie, aber bei genauerem Hinhören schwang doch etwas Sorge mit – Luc kannte diesen Ton seit Kindertagen.
Sein alter Herr hatte natürlich beobachtet, wie er die Jacke ganz eng zugeschnürt und den dicken Schal noch mal neu gebunden hatte, als hätte er auch nur irgendeine Chance gegen die beißende Kälte, die über das Bassin wehte, gerade als das Boot den Hafen von Arcachon verließ. Vor einer halben Stunde, als Luc seinen JaguarXJ6 unten auf dem großen Parkplatz abgestellt hatte, war es noch gänzlich dunkel gewesen. Nun aber machte sich hinten am Horizont, dort, wo das Bassin sich zum Ozean hin öffnete, eine Ahnung von Licht bemerkbar. In anderthalb, vielleicht zwei Stunden würde der Wintertag beginnen, und er sollte sonnig werden. Der klare Himmel machte die Luft noch beißender. Schneeluft. Eigentlich unmöglich, dachte Luc, so weit im Süden.
»Alles bestens. Wollte nur Weihnachten nicht mit einer fetten Erkältung im Bett liegen«, gab er zurück und sah, wie sein Vater scherzhaft mit den Augen rollte. Alain griff in seine Jackentasche und entnahm ihr das flache silberne Metallgefäß, das Luc so gut kannte.
»Was ist drin?«
»Calva…«
Bevor sein Vater das Wort beenden konnte, schraubte Luc schon die Flasche auf. Er nahm einen großen Schluck und spürte das brennende Gefühl, das der Apfelschnaps auf seiner Zunge hinterließ und das sich rasch im ganzen Körper ausbreitete. Feuer schlug Kälte. So ging das.
Der Calvados aus der Normandie war über zwanzig Jahre alt, sein Vater bekam ihn regelmäßig von einer alten Apfelbäuerin zugesandt, mit der er sich vor Jahrzehnten angefreundet hatte. Der Schnaps war ein Gedicht. Doch auch ohne ihn hätte Alain Verlain nicht gefroren. Niemals. Dafür war er zu oft hier draußen gewesen. Bei Nacht und Nebel. Sommers wie vor allem winters. Wenn hier draußen Hauptsaison war.
Wann immer Luc im frühesten Morgengrauen mit rausgefahren war – und er hatte das so oft wie möglich getan –, hatte er sich zusammenreißen müssen, um sich die Müdigkeit und das Frösteln nicht anmerken zu lassen. Selbst die drei Paar Socken, die er sich heimlich übereinander angezogen hatte, hatten nie geholfen. Bis Alain ihm dann im Alter von vierzehn Jahren zum ersten Mal den Flachmann weitergereicht und ihm die Jacke geschenkt hatte, die schon Lucs Großvater getragen hatte und die aus irgendeinem besonderen Material war, das unermüdlich Wind und Kälte abwies. Danach hatte er immer darauf hingefiebert, endlich wieder mit hinausfahren zu dürfen. Mithelfen, den Lebensunterhalt der Familie einzuholen.
Heute Morgen war es Alain gewesen, der der Abfahrt entgegengefiebert hatte. Schon ganz früh, zwei Stunden vor der vereinbarten Zeit, hatte sein Vater draußen vor der Holzhütte gesessen und geraucht, neben sich eine Tasse seines unnachahmlich starken Kaffees. So hatte er minutenlang in die Dunkelheit geschaut. Luc hatte ihn durchs Fenster beobachtet und vor Rührung lächeln müssen.
Es war sein Versprechen an seinen Vater gewesen. Noch einmal gemeinsam hinauszufahren auf das Bassin und dort den Sonnenaufgang mitzuerleben. Im Winter, in der Vorweihnachtszeit, der Zeit, die Alain immer die liebste war. Keine Touristen, viel Arbeit. Das Bassin ganz leer, keine Segler, keine Motorboote, nur die Austernzüchter bei der Arbeit. Das hatte Alain noch einmal sehen wollen. Und derzeit ging es ihm so gut, dass es möglich war.
Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Ärzte gaben ihm noch ein halbes Jahr. Vielleicht neun Monate. Zuletzt war er zu einer zweimonatigen Kur gewesen, bis spät in den Oktober, oben in La Baule. Und nun standen sie hier draußen auf der Barkasse, die immer weiter hinaussteuerte auf das Bassin.
Alain klopfte von außen an die Kabine und zeigte