Kapitel 1
Aurora berührte Giuliettas kalte Brust flüchtig. Etwas peinlich war ihr das, obwohl Giulietta nur eine Statue und diese Geste inzwischen eine Tradition war, die Aurora vor jeder Abreise einhielt. Sie bildete sich ein, dass das Glück brachte und sie auf der langen Fahrt beschützte. Wie immer erschien ihr diese Berührung trotzdem einen Tick zu intim. Was natürlich völliger Unsinn war. Der hübsche Innenhof mit dem Balkon, von dem behauptet wurde, er sei Schauplatz der wichtigsten Romeo-und-Julia-Szenen gewesen, war wie üblich gut besucht. Und alle Besucher machten Halt an der lieblichen Bronzestatue, um sich ihre Dosis Glück zu holen. Giulietta ließ sich vom Antatschen nicht aus der Ruhe bringen, erkannte Aurora. Obwohl die Statue besonders im Brustbereich vom vielen Anfassen regelrecht erstrahlte, so abgenutzt war das Material, lächelte die holde Julia ihr zurückhaltendes Lächeln über die Jahrzehnte weiter. Das Lächeln schien eine ganze Welt aus ungeteilten, kleinen Geheimnissen zu verbergen und gleichzeitig auf die Touristen abzufärben. Die Stimmung im Innenhof war gelassen, fast ein bisschen feierlich. Viele waren wohl auch gekommen, um gemeinsam ihre Liebe zu zelebrieren. Die Geschichte von Romeo und Julia war für alle der Inbegriff von Romantik. Das wusste jedes Kind.
Aurora fragte sich, ob all die Menschen, die um sie herumstanden, Fotos schossen oder sich einfach unterhielten, tatsächlich verliebt waren und auch den richtigen Partner an der Seite hatten. Beinahe war sie versucht, der Frau auf die Schulter zu tippen, die jetzt auf Giuliettas Statue zutrat, um herauszufinden, ob diese jemanden hatte, der sie wirklich, wirklich liebte. Dann aber sah Aurora, wie ein Mann – bestimmt deren Partner – ihr half, auf den Sockel der Statue zu steigen. Und es lag so viel Intimes, Vertrautes in dieser Geste, dass jede Frage überflüssig gewesen wäre. Sie erkannte einmal mehr, dass die Liebe sich nicht unbedingt mit Paukenschlag und Trompetenhall manifestierte. Liebe war auch mal leise. Und zart. Und feinfühlig. Oft war sie vorsichtig und schüchtern. Diese Art von Liebe bevorzugte Aurora. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu ihren Eltern, die die glücklichste Ehe geführt hatten, die sie jemals miterleben durfte. Ja. Ihre Eltern, die waren richtig glücklich gewesen. So glücklich, dass alle die beiden darum beneidet hatten. Und Aurora konnte gar nicht leugnen, dass auch sie stets darauf hingearbeitet hatte, so eine Art von Ehe zu führen. Gelungen war ihr das nicht. Aber Aufgeben war keine Option. Das hatte sie schon sehr früh im Leben gelernt. Mit Feigheit kam man eben nicht weit.
Und trotzdem stellte sich Aurora eher feige in die Ecke, um sich das heitere Treiben, das sich rund um die Erinnerungen an eine spektakuläre Liebesgeschichte bewegte, weiter zu beobachten. Ohne es bewusst zu steuern, mischten sich Bilder aus ihrer Vergangenheit mit in das Geschehen. Sie erinnerte sich daran, mit welch Lebensmut sie vor gut 15 Jahren in diese wundervolle Stadt gezogen war, und bedauerte es plötzlich sehr, die Sorglosigkeit von damals komplett verloren zu haben. Die erste Zeit in Verona, gemeinsam mit ihrem frisch angetrauten Ehemann Matteo, war nämlich bombastisch gewesen. Sie hatte weder ihren Heimatort Maratea noch ihre Familie auch nur eine Sekunde vermisst. Sie hatte gar nicht die Gelegenheit dazu gehabt. Matteo hatte ihr Leben ausgefüllt, wie noch niemand es geschafft hatte. Aber die Zeiten hatten sich geändert …
Instinktiv blickte sie auf ihre Armbanduhr. Sie musste gehen, erkannte sie mit Bedauern. Schließlich hatte sie noch einen wichtigen Termin gleich um die Ecke. Wehmütig verabschiedete sie sich von Giulietta und wünschte sich dabei, das Lächeln der Statue einpacken und mitnehmen zu können, um es bei Bedarf selbst zu verwenden. Matteo würde ein solches Lächeln sicherlich lieben.
»Buongiorno, signora!«, hieß ein penibel elegant bekleideter Angestellter sie willkommen. Er war unverschämt jung. Was ihm an Lebensjahren fehlte, machte er aber mit einem souveränen, ja fast anmaßend sicheren Auftreten mehr als wett. Er führte Aurora in sein winziges Büro, wartete höflich ab, bis sie sich setzte, und ging erst dann um seinen einfachen Schreibtisch herum.
»Cioccolatino?« Er reichte ihr eine Kristallschale, die mit feinsten Schokobonbons gefüllt war.
Sie nahm dankend an, schälte die Schokolade aus der kupferfarbenen Verpackung und schob sie in den Mund. Was sie beinahe augenblicklich bereute. Aurora merkte erst durch die Süßigkeit, wie trocken ihr Mund war, und kämpfte nicht wenig, um damit fertigzuwerden. Dabei entstanden sogar peinliche Sauggeräusche, und sie schämte sich in Grund und Boden.
Der Angestell