KAPITEL EINS
21. September 2006
08:15 Uhr Zentraleuropäische Sommerzeit
(02:15 Uhr Eastern Daylight Time)
Cañada Real
Coslada, Madrid
Spanien
»Wo ist er jetzt?«, fragte Jaafar Idrissi.
Die beiden Männer liefen gemeinsam durch die düsteren Gassen zwischen den verfallenen Holz- und Zementbauten der größten Barackenstadt Europas. Der Morgen war kalt und bedeckt und Jaafar zitterte, trotz seiner Windjacke und des Pullovers, den er darunter trug.
In der vergangenen Nacht hatte es geregnet und auf dem löchrigen Weg standen noch immer stinkende Pfützen aus braunem Wasser. Diese Menschen hatten weder Strom noch fließendes Wasser in ihren Häusern. Die beiden Männer spazierten durch dieses höllische Gelände – nicht, weil sie hier lebten, sondern weil es ein guter Ort war, um sich zu unterhalten, ohne belauscht zu werden. Die Bewohner hier waren zu hoffnungslos, um sich um das Gerede anderer zu kümmern. Und die Polizei machte sich selten die Mühe, sich einen Weg durch dieses Labyrinth der Verzweiflung zu bahnen.
Weiter vorn spielte eine Gruppe von Kindern auf drei behelfsmäßigen Rutschen. Die Rutschen bestanden aus großen PVC-Plastikrohren, die der Länge nach halbiert worden waren. Die Rohre waren gegen einen Haufen Dreck und Gerümpel gestapelt. Oben befand sich ein Haufen ausrangierter Auto- und Lkw-Reifen, an denen die Kinder hochkletterten, um in die Öffnung der Rohre zu gelangen. Unten türmte sich ein Haufen Sand, der von irgendwoher angeliefert worden war. Der Sand war durch den Regen zu einem dicken gelben Schlamm geworden.
Es war eine Schande von einem Spielplatz. Und das nur zwanzig Kilometer vom Zentrum Madrids entfernt, der wohlhabendsten Stadt des Landes, dem globalen Zentrum der Medien, der Mode, der Bildung, der Unterhaltung, des Sports und der Regierung. Jaafar ärgerte sich regelmäßig darüber.
War es so schwer? Wäre es eine so schreckliche Herausforderung, den Kindern der Armen und Verachteten etwas zu geben, das es wert war, zu haben? In dieser Barackensiedlung, dieser sogenannten »illegalen« Kolonie, lebten Tausende von Roma und marokkanischen Neueinwanderern – die Elenden Spaniens. Und das zeigte sich.
»Er ist in Barcelona«, sagte der junge Mann, der neben Jaafar herging. »Er wohnt im Hotel Arts.«
Jaafar zuckte mit den Schultern. »Und wieso interessiert mich das?«
Jaafar war einundvierzig Jahre alt. Seit drei Jahren war er der Urheber und Hauptplaner einer Idee, die so abwegig war, dass selbst er anfangs nicht daran geglaubt hatte. Die Idee war es gewesen, Rucksackbomben in Pendlerzügen zu platzieren, die zur Atocha Station, dem Hauptbahnhof von Madrid, fuhren. Der Erfolg hatte alle Erwartungen übertroffen. Bei den Anschlägen im März 2004 waren knapp zweihundert Menschen getötet und mehr als zweitausend verletzt worden. Sie verbreiteten Terror im ganzen Land und in ganz Europa.
Vier Beteiligte an den Anschlägen hatten sich selbst getötet, als die Polizei ihnen auf die Schliche gekommen war. Zwei von ihnen waren die einzigen Männer, die von Jaafars Beteiligung gewusst hatten. Einundzwanzig weitere Männer waren ins Gefängnis gewandert, wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens.
Jaafar hatte von dem Ereignis geträumt und sie dann geplant. Und als die Zeit gekommen war, aus dem vergifteten Becher zu trinken, der aus dem Ereignis resultiert war, hatte Allah selbst den Becher von Jaafars Lippen weggeführt …
Und ihm die Möglichkeit gegeben, es wieder zu tun.
Jaafar schüttelte fast ungläubig den Kopf. Er gehörte zu den Gesegneten und blieb auch jetzt noch vor den Augen des Feindes verborgen. Nach außen hin war er ein alternder Ex-Sträfling, ein Mann, der wegen Haschischhandels aus Marokko dreizehn Jahre in schmutzigen spanischen Gefängnissen verbracht hatte.
Er schien ein Ausgestoßener zu sein, ein Mann, der in einer Zweizimmerwohnung im achtzehnten Stock eines Hochhauses lebte, eines in einer endlosen Reihe identischer Hochhäuser. Er schien die winzige Wohnung mit seiner