1. Kapitel
Carl hielt das Motorrad an und stellte einen Fuß am Boden ab. Die batteriebetriebene Maschine lief lautlos. Als das Knirschen erstarb, mit dem die Stollenreifen über den felsigen Grund rollten, war die Stille nahezu vollkommen. Nur der nicht enden wollende, kalte Wind heulte über die schroffen Bergketten aus grauem Stein, die hier und da von dornigen Sträuchern und graugrünen Grasbüscheln unterbrochen wurden. Der Wind zerrte hellblonde Haarsträhnen unter der Kapuze von Carls Hoodie hervor.
Nach einer kleinen Weile begriff Carl, was fehlte: das Summen von Insekten, das Zwitschern von Vögeln, das Rauschen von Blättern im Wind. Dieser Dreckklumpen von einem Planeten war so tot und kalt, wie er sich fühlte. Die Kälte und Leere waren ein Teil von ihm geworden. Die zusammengewürfelte Kleidung, die er übereinander trug, täuschte nur vor, dass er sich vor der Kälte der Umgebung schützen wollte.
Er hauchte in seine froststarren Finger, die aus den abgeschnittenen, dreckigen Handschuhen ragten. Der Anblick der beiden fehlenden Finger seiner linken Hand ließ die Kälte in seinem Innern schneidend werden. Heftig ballte er die Hände und sondierte die Umgebung.
Wenige Meter von ihm entfernt bewegte sich der graue Sand und der handtellergroße Rücken eines gepanzerten Insekts wurde sichtbar. Es hatte starke Ähnlichkeit mit einer Assel. Und wie Asseln tauchten die Viecher überall auf, sogar in der Siedlung. Plötzlich durchschnitt ein hoher Schrei am Himmel die Stille und ein vogelartiger Körper mit ledernen Schwingen stürzte in die Tiefe hinab. Knapp über dem Boden kam er zum Halt und bohrte seine scharfen Klauen in den Rückenpanzer des Insekts. Dann erhob sich das Flugreptil mit einigen Flügelschlägen wieder in die Lüfte. Mit der Beute in seinen Klauen entfernte es sich und verlor sich schließlich im grauen Himmel.
Einmal hatte Carl beobachtet, wie ein Flugreptil von einer Gruppe zweibeiniger Landreptilien, die sie Velos nannten, gerissen wurde. Er wunderte sich, was die Velos gefressen hatten, ehe die Menschen kamen. Denn die Menge an Flugreptilien, die er bisher gesehen hatte, reichte nicht aus, um die vielen Velos zu ernähren. Es musste weitere Beutetiere geben. Beutetiere, die sie nicht kannten und die vielleicht essbar waren. Aber niemand schien ihm zuzuhören, wenn er davon erzählte. Es kümmerte niemanden, obwohl es wichtig sein könnte für ihr Überleben auf diesem Planeten.
Er konnte das verstehen. Es war gut, sich nicht zu kümmern, nichts an sich heranzulassen. Nichts zu fühlen. Niemanden zu lieben. Niemanden zu haben, den man verlieren konnte. Nichts in sich zu tragen, außer grauer Kälte.
Das war auch der Grund, warum er die schwarzen Knollen sammelte. Er würde sie gegen Stardust tauschen. Damit die graue Kälte in ihm nicht schwinden konnte. Damit er nichts fühlen musste. Wenn Stardust doch auch seine Gedanken töten würde! Aber die konnte er nur hier draußen zum Verstummen bringen – wo die anderen Menschen nicht lärmten.
Carls Blick fand hangaufwärts ein Grasbüschel, um das eine Ansammlung dunkler Steine lag. Das konnten welche von den Knollen sein, wegen derer er sich hier den Arsch abfror. Er bockte die Maschine auf, stieg ab und klemmte sich die kurzläufige Schrotflinte unter den linken Arm. Mit langen Schritten erklomm er den Hang. Das graue Geröll gab unter ihm nach. Die kalte Luft biss schmerzhaft in seiner Lunge. Als er das Grasbüschel erreichte, stützte er sich mit den Händen auf seinen Knien ab, um kurz auszuruhen. Tatsächlich! Eine Handvoll der schwarzen Knollen lag auf der Erde verstreut.
Carl sammelte sie auf und stopfte sie in die Taschen seiner Lederjacke, eines der wenigen Kleidungsstücke, das ihm gehörte. Die trotz aller Kälte geringe Wärme seiner Finger genügte, um den Schwefelgeruch aus den Knollen ausdünsten zu lassen. Carl ging jede Wette ein, dass die Knollen letztendlich nur Velo-Scheiße waren.
Aber was juckte es ihn? Solange er die Knollen bei den Vierarmigen gegen Stardust tauschen konnte, würde er auch Scheiße sammeln. Und wozu? Für Wendy und Ben etwa? Das konnte er vielleicht anderen vormachen, aber nicht sich selbst. Es lag ihm nichts an den beiden. Diejenigen, an denen ihm etwas gelegen hatte, waren tot. Diejenige, verbesserte er sich. Der Gedanke glich einer glühenden Nadel in seinem Kopf. Schnell verbannte er ihn.
Die heutige Ausbeute an Knollen war zu gering, um im Tausch die Batterie für das Motorrad neu aufzuladen. Das Tal, das er seit einigen Tagen absuchte, war abgegrast. Er hätte auf seinen Bauch hören und eine andere Route einschlagen sollen. Nun musste er sich einen Weg über die Hügelkette suchen, um ins nächste Tal zu gelangen. Hoffentlich fand er dort mehr von den Knollen, bevor die Dämmerung hereinbrach und ihn dazu zwang, zum Camp zurückzukehren. Denn mit der Dämmerung kamen die Velos – und die liebten Menschenfleisch. Carl glaubte nicht, dass Menschen besser schmeckten als diese Flugreptilien. Aber sie waren mit Sicherheit leichter zu fangen.
Carl blickte sich um. Hinter dem schroffen Hangrücken zu seiner Linken musste ein weiteres Tal liegen. Der Grat senkte sich an einer Stelle ab. Auch waren dort keine großen Felsen auszumachen. Wenn er den Hang im Zick-Zack-Kurs hinauffuhr, konnte er es schaffen. Die wichtigere Frage aber war, ob er von diesem Tal zur Siedlung zurückfinden würde.
Andererseits – wen kümmerte es? Es würde ihn ohnehin niemand vermissen.
***
Hartfield hatte sich lange auf sein Gespräch mit Phil vorbereitet. Dennoch ließ er sich vom Anblick des Hünen im Rollstuhl überrumpeln. Automatisch trat ihm ein anderes Bild vor Augen. Phil im Combatsuit, mit dem Raketenwerfer im Anschlag. Das war der Ph