Komm, wir brauchen Seeluft!
Samstag, sternenklarer Himmel, 15 Grad Celsius
Ich drücke die Kofferraumklappe langsam nach unten und quetsche dabei die hineingestopften Kissen zusammen. In letzter Sekunde ziehe ich die Hand weg und lasse den Deckel mit einem Knall zufallen. Geschafft! Ich hüpfe vor Freude wie Rumpelstilzchen. Zeitweise dachte ich, wir müssten spontan einen Lieferwagen mieten, aber nein, alles ist drin. Unfassbar! Wir können losfahren! Jetzt muss ich nur noch Helena aus dem Haus lotsen.
Mein Vater kommt mit der letzten Fuhre. In der einen Hand trägt er eine Kühltasche, in der anderen einen prall gefüllten Korb mit Lebensmitteln.
»Paps, wir brauchen keine drei Tage bis zum Campingplatz.«
»Es ist Samstag. Wir werden mit Sicherheit im Stau stehen. Den Rest könnt ihr abends essen. Glaub mir, du wirst froh sein.«
Ich seufze. Nach dem Tod meiner Mutter hat er ihre Rolle mit Inbrunst übernommen, und seitdem er Rentner ist, ist es noch schlimmer. Er ist nun hauptberuflich Töchterbetüddler. Der Karrieremensch a.D. verrichtet diesen Job mit derselben Hingabe wie einst seinen Posten als Prokurist einer kleinen Firma für Sanitärtechnik.
Ich nehme ihm die Kühltasche ab, öffne die Tür hinter dem Fahrersitz und stelle sie auf das letzte freie Fleckchen auf der Rückbank.
Anschließend marschiere ich die Kieseinfahrt unseres großzügigen Einfamilienhauses aus den Sechzigern hoch. Seit zwei Jahren lebe ich hier mit meiner vierzehnjährigen Tochter Helena und meinem Vater. Wir bewohnen das Erdgeschoss, mein Vater den ersten Stock, die Küche teilen wir uns. Es ist nicht optimal, aber mit dem Geld aus Großtante Lisbeths Erbe könnten wir umbauen und zwei geschlossene Wohnungen daraus machen. Ich erklimme die Eingangsstufen zu der braunen Holztür aus dem 18. Jahrhundert. Meine Mutter sammelte Antiquitäten, und die Haustür hatten meine Eltern aus einem Frankreichurlaub mitgebracht. Es ist eine gern erzählte Familienanekdote, wie mein Vater dem Händler in gebrochenem Französisch und mit wilden Gesten klarmachte, dass dieses kostbare Stück unbedingt auf dem Dach ihres Autos transportiert werden müsste. Ich liebe diese Tür. Es ist, als würde meine Mutter mich umarmen, wenn ich hindurchgehe.
Ich finde Helena im Wohnzimmer. Sie hat riesige Kopfhörer auf und schickt ihrer besten Freundin Annika die letzten Sprachnachrichten, die diese sowieso erst morgen hören wird. Es ist nämlich mitten in der Nacht. Wir haben acht Stunden Fahrt vor uns – ohne Stau.
»Ja, also meine Mum ist da, ich glaub, wir fahren jetzt. Ich meld mich wieder und hoffe schwer, dass es auf dem PlatzWLAN gibt. Sonst krieg ich echt die Krise.«
Ich baue mich vor ihr auf und stütze die Hände in die Hüften. Sie verdreht die Augen und nimmt ihre Kopfhörer ab. Ich brauche nichts zu sagen, mein Text landet via Mutter-Tochter-Datenübertragung direkt in ihrem Gehirn.
»Is gut, ich mach ja schon, aber echt, wenn’s da keinWLAN gibt, fahr ich sofort wieder nach Hause.«
»Fragt sich nur, wie du das ohne Auto und Führerschein bewerkstelligen willst.«
»Dann tramp ich halt.«
»Nur über meine Leiche. Zieh dich an, wir fahren!«
Während Helena der Aufforderung ohne Murren nachkommt – ein Wunder? –, kontrolliere ich den Herd, die Rollladen und schaue ein letztes Mal in den Briefkasten. (Klar, die Post kommt um zwei Uhr nachts.) Zum Schluss schn