1. KAPITEL
Lindow Castle
15. Mai 1780
Diana Belgrave dachte nur noch selten an jene Zeit, in der sie die verhätschelte Erbin gewesen war, die London im Sturm erobert und das Herz eines zukünftigen Duke gewonnen hatte. Wenn sie doch einmal daran dachte, konnte sie nur den Kopf schütteln.
Sie war so unglaublich jung gewesen! Sie hätte alles getan, um ihre ehrgeizige Mutter zufriedenzustellen – eine Meisterleistung, die unmöglich zu bewältigen war. Was Diana allerdings erst im Rückblick erkannt hatte. Vielleicht war das die Definition von Reife: zu erkennen, dass es nicht möglich war, alle Menschen zufriedenzustellen.
Auf lange Sicht hätte sie auch ihren Verlobten North – oder korrekterweise Lord Roland – nicht zufriedengestellt. Zumindest redete sie sich das ein, wenn sie sich schuldig fühlte. Schließlich hatte er nicht wirklich umihre Hand angehalten. Ihre Mutter hatte sie gezwungen, die Rolle einer stillen und fügsamen jungen Dame zu spielen, und dieser jungen Frau hatte North einen Heiratsantrag gemacht. Nicht Diana Belgrave.
Und die aufflackernde Sehnsucht, die sie früher in seinem Blick gesehen hatte? Die galt nicht ihr, sondern der Schöpfung ihrer Mutter, diesem sanftmütigen Wesen mit den turmhohen, verzierten Perücken.
Sie war davon überzeugt, dass es North nie gefallen hatte, was er für sie empfand. Seine Sehnsucht nach ihr ärgerte ihn, als würde dieses Verlangen seine Macht schmälern. Als würde sie dadurch einen Teil von ihm besitzen. Dabei war der zukünftige Duke of Lindow daran gewöhnt, in seiner Welt der absolute Herrscher zu sein.
Man stelle sich nur vor, wie wütend er geworden wäre, wenn er gemerkt hätte, dass die Frau, die er zu seiner Gemahlin auserkoren hatte, überhaupt gar nicht die Frau war, um die er geworben hatte.
Seufzend konzentrierte Diana sich wieder auf die Gegenwart. Früher einmal war sie die zukünftige Herrin von Lindow Castle gewesen; jetzt lebte sie hier als Bedienstete. Doch es gab etwas, das wichtiger war: Früher war sie eine unglückliche junge Dame gewesen, jetzt war sie eine sehr glückliche Gouvernante. Vielleicht keinegute Gouvernante, aber sie mochte ihre Arbeit.
Meistens jedenfalls.
Sie beugte sich vor und hob ihren zweijährigen Schützling, Lady Artemisia Wilde, hoch. Sie setzte sich das Mädchen auf die Hüfte und drehte sie sich zu dem dreijährigen Jungen um, der auf dem Boden saß und Muster in sein Rübenmus malte. „Godfrey, musst du auf den Topf?“
Ihr Neffe, Godfrey Belgrave, schüttelte den Kopf. Zum Glück, denn in diesem Moment