3.
»Wenn es der Alten leid tut, bist du geliefert, Mädchen«, hatte Köbi Fuhrer ihr zugeflüstert, als sie gemeinsam die Kantine verlassen hatten. Er war einer der wenigen, der nicht auf Distanz zu ihr ging. Wohl deswegen, weil er selbst unbeliebt war. Köbi galt als kümmerlicher Alkoholiker, dessen Loyalität primär seinem Schrebergarten galt. Nur schien ihn sein Ruf weit weniger zu kümmern als Johanna di Napoli der ihre. Das rasiermesserscharfe Schweigen, wenn ihr die Kollegen den Rücken zuwendeten, ertrug sie schlechter als erwartet. Darum ging sie nicht allein in die Polizeikantine. Nicht einmal mehr zur Kaffeemaschine in der Regionalwache Aussersihl. Früher ihr ureigenes Territorium. Johanna hatte sie zusammen mit ihrem Kollegen Murat Kayan besorgt, weil sie beide die Nase voll hatten von der wässrigen Brühe, die zu einem Polizistenleben zu gehören schien wie schlaflose Nächte und rassistische Witze. Es war eine veritable Kulturrevolution gewesen, welche die beiden durch den Erwerb einer simplen, italienischen Kaffeemaschine entfacht hatten. Mittlerweile machte Kayan ein Praktikum bei der Jugendanwaltschaft und Johanna bekam den kalten Hauch der Gegenrevolution zu spüren.
»Es tut mir leid, Frau di Napoli«, eröffnete die Kommandantin der Stadtpolizei Zürich das Gespräch. »Die Lage ist ernst. Ich hoffe, Sie sehen dies ein.« Sie ordnete die Papiere auf der Tischplatte vor sich. Zu ihrer Rechten saß kerzengerade Charlie Brunner, Johannas Chef. In piekfeiner Schale, mit glänzend polierter Glatze und fein säuberlich gestutztem Schnauzbart. Daneben Kevin von Kranach, Leiter einer Einheit für Spezialermittlungen, für die Johanna kurze Zeit gearbeitet hatte. Wobei ein paar Dinge schiefgelaufen waren.
»Missachtung von Weisungen des Einsatzleiters, Nichtbeherrschen des Fahrzeuges, Gefährdung Dritter.« Missmutig blätterte die Kommandantin in dem Bericht, den Johanna nur zu gut kannte. »Die Kantonspolizei zeichnet in ihren Ermittlungsakten ein höchst unerfreuliches Bild Ihrer Dienstauffassung, Frau di Napoli!«
Das Büro war riesig. Johanna kam sich winzig vor. An der Wand gegenüber hing eine Bildergalerie. Die Kommandantin hoch zu Ross. Auf einem Motorrad der Marke BMW. Mit Polizisten aus aller Welt, einem amtierenden Bundesrat und dem ehemaligen Bürgermeister von New York. Daneben eine Urkunde desRotary Clubs. Auf dem Schreibtisch das golden umrahmte Bild ihrer Freundin. Sie sahen aus wie Zwillinge.
»Nun gut. Das ist die Meinung der Kantonspolizei.« Die Kommandantin legte das Papier beiseite und nahm ein neues vom Stapel. »Auch wenn ich dies niemals öffentlich sagen würde, interessiert mich unsere interne Sicht um einiges mehr.« Ein Schmunzeln, ein Blick auf von Kranach, ein Räuspern. »Leider ist unsere eigene Disziplinaruntersuchung nicht schmeichelhafter.« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung.
Johanna zuckte zusammen. Einen Sekundenbruchteil lang schien es ihr, als holte die Chefin zum Schlag aus. Johanna kannte den zweiten Report nicht.
»Alle hier haben etwas gegen Werner Hügli, Frau di Napoli. Er ist ein Schläger, Zuhälter, Drogenhändler und vieles mehr. Aber Sie haben ihn eigenmächtig verhaftet. Entgegen anderslautender Anweisung. Außerdem sind Sie ohne Hausdurchsuchungsbefehl der Staatsanwaltschaft in sein Haus eingestiegen.« Ihre Stimme wurde ein kleines bisschen metallischer. »Und es gibt Gerüchte, wonach Sie Hügli durch Androhung von Folter zu einem Geständnis geb