Vater und Tochter
»Und hier muss der Stoff ein wenig gerafft werden, damit die Figur besonders gut zur Geltung ... Papa, du passt überhaupt nicht auf.« Julchen ließ ihre Arbeitsmappe mit den Modezeichnungen sinken. Vorwurfsvolle Miene.
Hellbraune Augen, die im Licht leuchteten wie Bernstein.
Seine Augen.
Sonst glich sie ihrer verstorbenen Mutter. Die leicht mollige Figur, der etwas zu groß geratene Mund mit den vollen Lippen, die Nase mit der drolligen Spitze und das kurz geschnittene braune Haar. Nicht zu vergessen die Sommersprossen, die sie hasste, ihrem Gesicht jedoch eine spezielle, pfiffige Note gaben.
»Tut mir leid.« Seit Julchen in Berlin studierte, kam sie kaum einmal im Monat auf Besuch zu ihm. Er sollte diese Zeit nützen und genießen. Aber momentan schweiften seine Gedanken ab. Zu Melanie.
Warum lebte sie in dermaßen ärmlichen Verhältnissen? Selbst wenn ihre Ehe geschieden wurde, müsste nicht ihr Mann für Unterhalt sorgen? Der galt als erfolgreicher Immobilienmakler. Sie hatte aus Freude gearbeitet, nicht weil sie Geld benötigte.
Was hatte sich geändert?
»Warum erzählst du mir nicht, was dich bedrückt?« Julchen sah ihn offen an. Seine Tochter war erwachsen, vor wenigen Wochen zweiundzwanzig geworden und erfolgreich in ihrem Studium. Und sie war eine Frau, die sich womöglich leichter in die Gedankengänge einer anderen Frau hineinversetzen konnte als er.
»Ich habe einen großen Fehler gemacht und einem Menschen unrecht getan.«
»Einer Frau?«
»Ja. Aber nicht so, wie du denkst. Melanie ist ... war meine Angestellte, meine Assistentin.«
»Richtig. Sie hat letztes Jahr gekündigt.«
»Daran erinnerst du dich?«
»Du weißt wohl gar nicht, wie oft du über deine neue Assistentin geklagt hast? Sie würde Hände und Füße brauchen, für eine Tätigkeit, die Melanie mit dem kleinen Finger erledigt hätte?«
»Das soll ich gesagt haben?«
»Nicht zu mir. Aber am Telefon. Zu Onkel Klaus.«
Konstantin schüttelte den Kopf. Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr an dieses spezielle Gespräch erinnern, an die mangelhaften Qualitäten seiner neuen Assistentin jedoch schon. Sie würde nie an Melanie heranreichen können.
»Also, sie hat gekündigt und ...?«
»Nein. Ich habe sie fristlos entlassen.«
Julchen blieb der Mund offen. »Du, Papa?«
Er senkte den Kopf. »Ich war einfach enttäuscht.«
»Du mochtest sie.«
»Sie war die beste Assistentin, die ich je hatte. Beate ist nur ein müder Abklatsch dagegen.«
»Du mochtest sie.«
»Ich konnte mich hundertprozentig auf sie verlassen.«
»Gib es einfach zu: Du mochtest sie.«
»Ja.« Konstantin trat zum Fenster. »Aber sie war verheiratet. Zum Glück. Mit einer Angestellten, noch dazu direkt Untergebenen etwas anzufangen, ist unprofessionell.«
»Ach, Papa! Immer korrekt. Die Liebe fragt nicht nach so was.«
Seine romantische Tochter!
»Meist geht es da nicht um Liebe, sondern um die ... ähm ... anderen Bedürfnisse.«
»Hast du denn welche?« Julchen sah ihn todernst an und Konstantin wusste im Moment keine Antwort. Da prustete sie los. »Dein Gesichtsausdruck ist göttlich. Sorry, ich musste dich einfach necken. Also: Du hast sie nicht angebaggert – schon gut, sieh mich nicht so an! Was hast du dann angestellt?«
Konstantin räusperte sich. »Ich dachte, Melanie hätte Vertrauliches ausgeplaudert. Es sprach alles gegen sie. Aber als ich sie in diesem Café traf - sie arbeitet als Bedienung, obwohl sie einen Bachelor in Wirtschaft absolviert hat – beschimpfte sie mich wütend. Als sei ihre Entlassung ungerechtfertigt gewesen. Vor Ostern bei unserem Stammtisch habe ich Klaus darauf angesprochen und musste feststellen, dass ich Melanie tatsächlich zu unrecht hinausgeworfen habe.« Konstantin schüttelte den Kopf und ballte seine Hände. »Die Tratschbase wurde als meine ›neue Assistentin‹ bezeichnet, also konnte es Melanie gar nicht sein, denn sie arbeitete bereits seit