Lichtjahre
Wieder fort, wieder da, wieder fort.
Ein sturmgepeitschter Abendhimmel. Die Wolken hängen tief und sind fast schwarz. Blitze wie von bizarren Flammen umzüngelt, das Aufwirbeln von Asche. Im Wüstensand die leerstehenden Häuser einer Geisterstadt; die Häuser sind schäbig und verfallen, manche schon halb eingestürzt, staubig und erschreckend leer. Zwischen den Dielenbrettern sprießt Unkraut. Auf den Dächern nisten Vögel. Ich weiß nicht, warum ich hier bin - warum ausgerechnet hier, an diesem Ort.Es sollte immer einen Grund geben. Oder mehrere Gründe.
Ich überquere die von verlassenen Häusern gesäumte Straße, auf der verstreut entsetzliche Überreste von Metall und menschlichen Gliedern liegen, denn aus einem der Gebäude habe ich ein kaum wahrnehmbares Geräusch vernommen. Auf den Türen sind Augen, die neugierig schauen. Die Schlösser haben sich in winzige Gesichter verwandelt, die mich boshaft angrinsen.Der Künstler muss sein Werk durchdringen, sich damit umgeben. Ich öffne eine Tür, auf der in verblichenen Buchstaben geschrieben steht: ES GIBT KEIN ZURÜCK.
Gut, dass es so ist, denke ich.
Rechts die Bar - mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Dahinter die gesplitterte Spiegelwand. Messing-Geländer. Ein Heer verzauberter Figuren, von innen heraus leuchtende leere und zerbrochene Flaschen. Links im Hintergrund Tische in trostlosem Zustand. Ich denke an das Märchen vom Fischer und seiner Frau und seinen drei Wünschen. Ich wünsche mir goldene Flügel, doch nichts geschieht.
Ich sehe mein Spiegelbild, betrachte mein Gesicht, meinen Blick, grausam und besitzergreifend, hungrig. Mein Gesicht scheint nach alter lateinischer Tradition gleichzeitig mein kindliches Wesen und meine dramatischen Züge zum Ausdruck zu bringen. Bald werde ich alt sein und sterben. Ich wünsche mir ein Zeichen, einen Regenbogen. So sieht die Welt sehr klein aus, meine Welt, die nur aus der Bar und der Spiegelwand besteht.
Die Spiegelwand ist an diesem Tag ein Gemälde in Anthrazitgrau, eine Symphonie in hellen bis dunklen Schattentönen, sie reflektiert meine Schuldgefühle.Und diese Schuld liegt über jedem Winkel meiner Seele, über jeder Phase meines Lebens.
Ich scheue mich, den Spiegel zu berühren, so als könnte ich mit einem Zauber das Leben, diesen Fluss, aus dessen Fluten sich medusenhafte Arme heben, in Stein verwandeln.
Einige Minuten bleibe ich reglos stehen. Ich erinnere mich bruchstückhaft an Schmerzen, Fieber, Durst, an alle Stadien des Selbstmitleids, des Ärgers, der Wut und der Rache, alle Stadien der Wildnis, die mein Leben ist. Doch der Schmerz und das Fieber sind verschwunden; ich fühle nur noch eine schreckliche Schwäche und Durst. Mein Mund ist ausgetrocknet und die Lippen sind aufgesprungen. Ich suche etwas zu trinken, und mein Blick fällt auf eine staubige Flasche. Ich greife danach, öffne sie umständlich und hebe sie an den Mund. Ich trinke, trinke noch einmal und noch einmal. Bei der Tür lege ich mich hin und schlafe, aber nicht lange. Die Sonne scheint herein, als ich die Augen wieder öffne.
Die nächsten Stunden verbringe ich mit Trinken und Schlafen. Mein Mund wird zu einem schrecklichen schwarzen Höllenschlund.
Ich träume. Ich träume von einem Silberregen, von einem Bach, an dem ich als Kind gespielt habe. Der Rest des Schlafes ist bedeutungslos, ein Schlaf ohne Träume.
Als würde ich in einen heimtückischen Fluss stürzen wache ich auf. Es ist kalt und riecht nach Meeresluft und Salz und Verwesung. Draußen geht Werther vorbei im Augenblick des Triumphs. Auf einem kleinen Tisch neben der Tür steht eine Schreibmaschine; daneben liegen Bücher und Notizen.
Ich werde Werther folgen.
Ich weiß, dass er meinem Herzen entspringt.
Es ist ein schöner Tag gewesen. Finster blicke ich vor mich hin, sammele Bücher und Papier ein und werfe alles weg. Ich nehme die Flasche und ein schmutziges G