: Heike Vullriede
: LUZIFER-Verlag
: NOTIZEN EINER VERLORENEN Roman
: Luzifer Verlag
: 9783943408881
: 2
: CHF 2.40
:
: Spannung
: German
: 312
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
SARAH IST TOT. Ein Unbekannter entdeckt ihren Leichnam in einer verlassen Scheune. Neben ihr findet sich ihr Tagebuch. Aufzeichnungen der letzten Wochen eines jungen Lebens - die Notizen einer Verlorenen. 'Faszinierend, verstörend und erschreckend. Eine traurige und berührende Geschichte.' - Amazon.de Mit leisen Tönen skizziert Heike Vullriede in ihrem Roman 'Notizen einer Verlorenen' das Psychogramm einer jungen Frau, gefangen zwischen ihren eigenen Obsessionen und der Sogwirkung sektiererischer Organisationen. Es ist ein Buch über Liebe und Tod, über Selbstmord und den Wert des Lebens, aber auch über Manipulation, Fanatismus und Machtmissbrauch. Bedrückend realistisch, anrührend und verstörend. 'Vullriede gibt mit 'Notizen einer Verlorenen' zahlreiche kritische Denkanstöße und hebt mit ihrer schonungslosen Offenheit das Tabu rund um das Thema Selbstmord und Sterbehilfe auf.' - lovelybooks

Heike Vullriede, 1960 in Essen geboren und aufgewachsen, wohnte 15 Jahre in Herten (Westfalen) und lebt seit 2008 im münsterländischen Reken. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. Jede freie Minute widmet sie der Arbeit mit Literatur. Geschichten zieht sie an wie Kleider, die so eng sitzen, dass sie sich kaum wieder ablegen lassen. Das Leben hält sie für einen Traum von Gestern und Morgen, aus dem man nur schwer zur Gegenwart findet. Heike Vullriede ist Mitglied der Autorinnenvereinigung e.V., der Deutschen Buddhistischen Union und der Künstlervereinigung Rekener Farbmühle e.V.

Jens

Alles begann am 25. Juni 2011, zehnTage nach meinem dreiunddreißigsten Geburtstag, mit einem verfluchten braunen Briefumschlag, den ich in meinem Briefkasten vorfand.

›An Sarah‹, ohne Absender oder Briefmarke.

Ich war ziemlich gereizt an diesem Tag. Wahrscheinlich lag es an meiner Verabredung mit Jens in der Stadt, denn ich wusste zu diesem Zeitpunkt längst, dass ich meine Zusage bereuen würde. Meine verschwendete Zeit auch. Was er wohl von mir wollte? Sein geheimnisvolles Getue war der einzige Grund, weshalb ich ihmüberhaupt zugesagt hatte. Ich bin eben doch neugierig, muss ich zugeben, und Jens hätte sowieso keine Ruhe gegeben. Immerhin wollte er nicht bei mir auftauchen. Ein Treffen in der Essener City– das war mir auf jeden Fall lieber, als bei mir Zuhause. Gott, war ich froh, dass er mich seit ein paar Wochen in Ruhe ließ. Endlich gab es wieder eine Aussicht auf meinen stinknormalen einsiedlerischen und stummen Alltag, wenn man von der Zwangsgemeinschaft im Büro absah. Keine nächtlichen Anrufe mehr, kaum noch Gejammer am Telefonüber sein schrecklich einsames Leben, als wäre das meine besser gewesen. Keine Vorwürfe, weil ich ihn verlassen hatte. Verlassen? Verlassen klingt viel zu harmlos! Geflüchtet passt wohl eher.

Ich fuhr mit dem SB15 von Burgaltendorf aus zum Essener Hauptbahnhof und wie immer hoppelte der Bus so grauenhaftüber die Ruhrallee, dass es mir unmöglich war, irgendetwas auf meinem Smartphone zu lesen. Aber wer, außer Jens oder meinen Eltern, hätte mir auch schon eine Nachricht gesendet? Wichtig war es also nicht.

Leider hatte ich diesen Umschlag Zuhause in einer anderen Jacke vergessen. So ist das Leben. Man missachtet die Kleinigkeiten, weil man ihnen zu wenig Bedeutung beimisst. Dabei sind es oft genug die Geringfügigkeiten, die sogar Leben kosten können.

Am vereinbarten Ort in der Stadtmitte, an unserem LieblingskinoLichtburg, wartete Jens und begrüßte mich, indem er wie immer todernst auf mich herabsah. Mit diesem Blick, der in mir all die unguten Gefühle aufkommen ließ. Erinnerungen an eine furchtbar anstrengende Zeit in meinem Leben. Mir fiel wieder einmal auf, wie groß Jens war. Stand ich vor ihm, ohne den Kopf in den Nacken zu legen, reichte ich ihm gerade mal bis zu den Warzen seiner mageren Brust,über denen an diesem Tag ein schwarzes T-Shirt mit der seltsamen AufschriftVerlorenKnitterfalten bildete. Jens erfasste mich mit anklagend zusammengezogenen Augenbrauen. Nicht die Spur eines Lächelns zur Begrüßung in seinem fahlen Gesicht. Mit einem Auge zwinkerte er nervös.

»Da bist du ja endlich!«, sagte er, als wäre ich zu spät gekommen.

Jens hatte es gleich eilig. Flüchtig drückte er mir einen Kuss auf die Wange, der nichts von den kurzlebigen Gefühlen von damals in mir zurückholte. Ein Kuss, wie der eines Bruders, für den ich mich verantwortlich fühlte.

Von ihm am Arm gepackt wunderte ich michüber seine heute ungewöhnlich zielstrebige Art. Ich wusste auch nicht, warum er so viel Wert darauf legte, gerade jetzt und ganz pünktlich, von unserem Treffpunkt aus loszulaufen, ohne vorher wenigstens das Kinoprogramm derLichtburganzusehen. Morgen:Die Nordsee von oben, mit einem Meet&Greet der Filmemacher vor Ort. Aber Jens wollte nicht. Ich nahm es hin. Wenn man so jemanden kennt, wundert einen irgendwann nichts mehr. Undmichnannten die Leutekomisch!

Er schob mich die Fußgängerzone auf der Kettwiger entlang in Richtung Hauptbahnhof, mitten durch das Gewühl der Kaufsüchtigen.

»Aber Jens, von da komme ich gerade. Lass uns doch erst mal durch die Geschäfte hier unten bummeln, ja?«

»Nein.«

»Nein? Warum nicht?«

»Das wirst du noch sehen. Komm mit.«

Seine Bestimmtheit verdutzte mich. Tatsächlich suchte ich nun doch nach einem Grund für sein Verhalten. Vielleicht wollte er mir etwas Besonderes kaufen, aber das wäre wahrhaftig das erste Mal gewesen. Besser, ich spekulierte gar nicht erst. Ich ließ mich stumm weiter ziehen, während Jens scheinbar versuchte, unsere Laufgeschwindigkeit zeitlich abzustimmen. Manchmal schlenderte er mit mir fast in aller Ruhe an einigen Schaufenstern entlang, dann wieder drängte er mich nach einem Blick auf die Armbanduhr zur Eile. Während wir gingen, sah ich auf seine langen Beine, in enge Jeans gepackt, die unablässig und mit viel größeren Schritten als meine vorwärts staksten. Ich musste stets zwei Schritte laufen, um einen von seinen aufzuholen. Auf den Oberschenkeln seiner ehemals blauen Hose fand ich eine feine, aber deutliche Schicht schmierigen Drecks. Typisch Jens– keine Zeit für das wahre Leben.

Unvermittelt blieb er stehen und packte mich bei den Schultern. Seine Finger kniffen schmerzhaft in meine Haut. Wollte er mir einen Antrag machen? Außer meinem Hirn lehnte sich sofort auch mein Magen auf. Eine derartige Verbindung mit Jens wollte ich mir keinesfalls mehr vorstellen… nicht noch einmal das Leben mit einem so schwierigen Menschen teilen. Jens sollte nur ein Freund bleiben. Von mi