1.Mehrsprachigkeit in Sprach- und Literaturwissenschaft
In der linguistischen Forschung wird unter Mehrsprachigkeit das Zusammenspiel von mehreren Sprachen oder Varietäten in individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen verstanden. Beide Ebenen sind in der Regel miteinander verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. In der Linguistik gilt es zudem als erwiesen, so die Sprachwissenschaftlerin Claudia Maria Riehl, eine der führenden Forschungsstimmen zu den Themen Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit, dass „im Bereich der Schriftlichkeit ähnliche Prozesse ablaufen können wie in der gesprochenen Sprache“. Mehrsprachige Phänomene wie Sprachwechsel bzw. Code-Switching (Wechsel zwischen [zwei oder mehr] Sprachen oder Varietäten, wobei sich die verwendeten Sprachen nicht verändern), und Sprachtransfer bzw. Sprachmischung (Vermischung von zwei oder mehr Sprachen auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen [Syntax, Semantik, Morphologie, Phonologie etc.], wobei sich die verwendeten Sprachen verändern) fänden sich gleichfalls in literarischen Texten und das nicht erst in der modernen Literatur, sondern bereits seit der Antike. Dass beim Schreiben ähnliche Prozesse wie beim Sprechen ablaufen, bestätigen auch die Beiträge des von Mark Sebba, Shahzad Mahootian und Carla Jonsson herausgegebenen Sammelbandes „Language Mixing and Code-Switching in Writing. Approaches to Mixed-Language Written Discourse“ (2012). Der Band schafft einen theoretischen und methodischen Rahmen für die Untersuchung verschiedener mehrsprachiger Texte und liefert Beispiele für empirische Studien – von literarischen Texten über Textnachrichten wie SMS bis hin zu E-Mails und Internettexten. Betont wird, dass schriftliche Mehrsprachigkeit erstens eine Ressource für sprachliche Vielfalt sei, und zweitens sei sie keine Ausnahme, sondern eine Norm in einer zunehmend globalen Sprachlandschaft. Aber auch Studien wie die von Laura Callahan, die sich in ihrer Monografie „Spanish/English codeswitching in a written corpus“ (2004) mit Sprachwechsel in der Latino-Literatur in den Vereinigten Staaten von Amerika beschäftigt, bekräftigen, dass beim Schreiben ähnliche Prozesse wie beim Sprechen ablaufen. Callahan betrachtet 30 Romane und Kurzgeschichten, die zwischen 1970 und 2000 von insgesamt 24 Autorinnen und Autoren veröffentlicht wurden. Ihre Erkenntnis: Schriftliches Code-Switching folgt größtenteils denselben syntaktischen Mustern wie das gesprochene Gegenstück. Sie betont, dass es eine grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen schriftlichem und gesprochenem Code-Switching gäbe, und dass schriftliches Code-Switching „does not require a separate model of syntactic constraints“. Es erfülle nicht nur dieselben authentischen Diskursfunktionen, die Verwendung stelle auch die gelebte strategische „rejection of monolingual English as well as of monolingual Spanish“ dar.
Auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung geht man von Parallelen zwischen beiden Disziplinen aus. Bereits vor Jahrzehnten wurde dafür argumentiert, dass die Ergänzung literaturwissenschaftlicher Fragestellungen um linguistische Methoden eine Bereicherung für die Analyse literarischer Texte darstellt – zum Beispiel bei der Betrachtung literarisch fingierter Dialoge in erzählenden Texten oder im Drama. Gerold Ungeheuer sieht in seinem Aufsatz „Gesprächsanalyse an literarischen Texten“ (1980) literarische Texte als die „Projektion der kommunikativen Gesamterfahrung des Autors“ und argumentiert dafür, dass literarische Gespräche wie natürliche untersucht werden können. Ähnliche Ansichten vertritt Ernest Hess-Lüttich in seinem Buch „Soziale Interaktion und literarischer Dialog“, wenn er schreibt, „daß sich den Grundprinzipien dialogischer Verständigung auch der Autor literarischer Texte unterwirft, dessen fiktive Modellierung des Dialogs in seiner Kommunikationserfahrung gründet“. Auch die jüngere Mehrsprachigkeitsforschung sieht bereichernde Schnittstellen zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft, wenn es um die Analyse literarischer Mehrsprachigkeitsphänomene geht. Unter literarischer Mehrsprachigkeit wird in der Forschung weitestgehend das Schreiben in mehreren Sprachen gefasst, sei es in Form eines mehrsprachigen Gesamtwerks eines Autors (und seiner Mehrsprachigkeit) oder eines mehrsprachigen Einzelwerks. Daneben gibt es auch ein weitläufigeres Verständnis des Begriffs. Monika Schmitz-Emans und Manfred Schmeling konstatieren beispielweise, dass unter literarischer Mehrsprachigkeit auch „gemischtsprachige Länder oder Regionen und ihre Literaturen“ verstanden werden können. Bei der Erforschung der Mehrsprachigkeit eines Textes liegt der derzeitige Fokus – ähnlich wie in der Linguistik – auf der Betrachtung von auf der Sprachoberfläche sichtbaren Mehrsprachigkeitsphänomenen. „Hauptsächliches Objekt der wissenschaftlichen Untersuchung ist bislang ihre sichtbare Präsenz, das heißt die manifeste Form der literarischen Mehrsprachigkeit“, so Natalia Blum-Barth. Anknüpfend an die bisherige Forschung, zählt sie zu den häufigsten manifesten Formen literarischer Mehrsprachigkeit „Sprachwechsel“ und „Sprachmischung“.Sprachwechsel in Texten werden in Anlehnung an den linguistischen Begriff des Code-Switchings als „[U]mschalten“ zwischen unterschiedlichen Sprachen verstanden. Das Phänomen läge dann vor, „wenn stellenweise von der Grundsprache [eines Textes] in eine andere Sprache gewechselt wird.“Sprachmischung wird in Beziehung zu Kontaktsprachen gesetzt. Von einer Kontaktsprache wird in der Linguistik gesprochen, wenn die „Strukturen und Elemente“ mindestens zweier Sprachen miteinander kombiniert werden, sodass eine neue Sprache erzeugt wird. Blum-Barth zählt hierzu auch die Entstehung von „Phantasiesprachen“. Die grammatischen Kombinationsmöglichkeiten können alle sprachlichen Ebenen, von der Syntax über die Morphologie bis hin zur Lexik, betreffen. Latente mehrsprachige Verfahren rücken erst jüngst vermehrt in den Forschungsmittelpunkt. Latente literarische Mehrsprachigkeit sei in der „Tiefenstruktur des Textes verortet“ und an der Oberfläche des Textes nicht sichtbar. Ein Text sei immer dann latent mehrsprachig, „wenn andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind; er weist also auf den ersten Blick eine einsprachige Oberfläche auf.“ Zu häufigen Realisierungsformen zählen Sprachreflexionen und Sprachverweise, aber auch Übersetzungen.
Die vorliegende Arbeit schließt sich dem engeren Verständnis von literarischer Mehrsprachigkeit aus pragmatischen Gründen an, da sie sich zum Ziel setzt, die Techniken mehrsprachigen Schreibens zu untersuchen. Konzentriert wird sich auf manifeste Mehrsprachigkeitsverfahren innerhalb eines Textes mit Blick auf die Mehrsprachigkeit der Autoren. Denn gerade auf der Textoberfläche sichtbare Mehrsprachigkeitsverfahren wie die des Sprachwechsels und der Sprachmischung erlauben Bezüge zu linguistischen Forschungsansätzen. Das verdeutlicht auch die Studie von Dagmar Winkler. In ihrem Aufsatz „,Code-Switching‘ und Mehrsprachigkeit. Erkennbarkeit und Analyse im Text“ (2010) weist sie nach, dass viele manifest mehrsprachige Texte der Autorin Marica Bodrožićs den Prozess des linguistischen Code-Switchings ästhetisch abbilden. Auch in dem von Till Dembeck und Rolf Parr 2017 herausgegebenen Handbuch „Literatur und Mehrsprachigkeit“ greifen linguistische und literaturwissenschaftliche Parameter Hand in Hand. Sprachwissenschaftliche Methoden können gemäß Till Dembeck auch auf literarische Texte zur literaturwissenschaftlichen Erfassung angewendet werden. Er betont allerdings den Unterschied zwischen mündlichen und schriftlich fixierten Phänomenen, die zudem in einem literarischen Kontext stehen:
Natürlich können diese linguistischen Beschreibungsmodelle einzelne philologische Befunde nicht aus sich heraus erklären. Sie erleichtern es aber, abzuschätzen, inwiefern sich ein Text an den linguistischen Gegebenheiten seines Kontextes bzw. des Kontextes der dargestellten Handlung orientiert, inwiefern seine Mehrsprachigkeit also ,akkurat‘ ist.
Diese Erkenntnis ermöglicht die Einschätzung, inwiefern die Mehrsprachigkeit der außerliterarischen Realität imitiert und stilisiert wird. Einen sprachwissenschaftlichen Fokus setzt auch Anna Benteler in...