Kühler Wind blies mir ins verschwitzte Gesicht, als ich mich endlich die Treppen der U-Bahn-Station hochgekämpft hatte. Ich ließ die gefühlten fünfzig Kilo Gepäck in Form zweier Reisetaschen und eines Koffers mit einem Poltern auf den Gehweg fallen. Zu meiner Rechten brausten Autos auf einer Straße entlang, die so viele Spuren hatte, dass sie mühelos als Autobahn hätte durchgehen können. Gläserne Bürogebäude und graue Betonklötze reihten sich aneinander, hin und wieder half eine einzelne Leuchtreklame den Straßenlaternen dabei, die abendliche Dunkelheit zu erhellen. Menschen hasteten an mir vorbei, die Männer in dunklen Anzügen mit weißen Hemden und Krawatten, die Frauen in eleganten Kostümen und auf Pumps, die ihre schlanken Beine betonten. Ein paar Schritte von mir entfernt standen zwei junge Frauen, je eine zu jeder Seite des Bürgersteiges, und drückten den Passanten kleine Taschentuch-Packungen in die Hand, auf deren Rückseite ein pinkfarbener Werbeflyer prangte.
Das also war Tokyo?
Sollte es hier nicht ... na ja, irgendwie anders sein? Wo waren die Menschen, die als Animefiguren verkleidet durch die Gegend liefen? Wo die nicht enden wollenden Leuchtreklamen, die so grell strahlten, dass man nicht mehr wusste, ob Nacht oder Tag war? Wo die Wolkenkratzer, die diese Bezeichnung wirklich verdienten? Und wo zur Hölle musste ich hin?
Tokyo, Minato-ku, Minami-Aoyama, 4-9-14. So lautete die Adresse. Die freundliche Frau am Flughafen-Infoschalter hatte mir erklärt, was das bedeutete: In der Stadt Tokyo, im Bezirk Minato, im Klein-Bezirk Minami-Aoyama, in diesem wiederum im Bezirk 4, Häuserblock 9, Hausnummer 14. Leider hatte sie mich auch gewarnt, dass Hausnummern nicht der Reihenfolge nach, sondern dem Baujahr nach verteilt wurden.
Und jetzt? Die Dame am Flughafen hatte auch irgendetwas von einem Umgebungsplan gesagt, der an jeder U-Bahnstation aushing und anhand dessen ich die von mir gesuchte Adresse finden könnte - oder zumindest bis hin zum Häuserblock, den ich dann noch nach der Hausnummer ablaufen müsste. So weit, so gut, nur: Wo fand ich diesen ominösen Umgebungsplan? Ich hatte nichts dergleichen gesehen, weder unten an der Station, noch hier oben! Oder ... Mir kam ein schrecklicher Gedanke. Konnte ich den Plan unten übersehen haben? Es gab da so viele Abzweigungen, so viele Ausgänge, die hatte ich zugegebenermaßen nicht alle abgelaufen. Musste ich etwa nochmal da runter, gefühlte eintausend Stufen mit meinem Gepäck? Meine Schulter fühlte sich bereits an, als hätte die schwere Reisetasche sie auf dem Weg vom Flughafen hierher ausgekugelt und meine Arme zitterten. Außerdem war ich viel zu spät dran! Sie hatten bereits vor zwei Stunden mit mir gerechnet. Was, wenn ich Ayumis Adresse überhaupt nicht fand? Vielleicht dachten sie auch, ich käme gar nicht mehr, hätte meinen Flug verpasst oder überhaupt nicht erst angetreten. Panik schnürte mir die Kehle zu.
Wie war ich nur in diese Situation geraten? Noch vor zwei Tagen war alles seinen normalen Gang gelaufen ... nun ja, normal war vielleicht das falsche Wort, aber immerhin hatte nichts darauf hingedeutet, dass ich achtundvierzig Stunden später mit meinem halben Haushalt im Gepäck auf einer Straße in Tokyo stehen würde, ohne funktionierendes Handy, ohne Stadtplan, ohne eine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Das alles war ein Fehler gewesen. Wie hatte ich glauben können, ich könnte das alles schaffen? Ich gehörte nicht hierher, ich gehörte in mein Bett. Doch dieses befand sich nun elf Flugstunden entfernt, sozusagen am anderen Ende der Welt. Ich war in Tokyo. Und wie es dazu gekommen war, wusste ich selbst nicht genau.
Ich war nahe daran, mich neben meinem Gepäck auf den Gehweg zu werfen und in Tränen auszubrechen. Aber genau diese Art von Verhalten hatte mich ja erst in diese Lage gebracht. Wenn es einen guten Zeitpunkt gab, sich zusammenzureißen, dann jetzt. Ich atmete tief ein und wied