Alice
»Zeitpunkt des Todes: achtzehn Uhr siebenundfünfzig.«
Mein Herzschlag normalisierte sich nur ganz langsam. Das Adrenalin, das in den letzten Minuten durch meine Adern gejagt war, verklang wie der Schlussakkord eines aggressiven Rocksongs. In meinen Knien spürte ich das Zittern zuerst.
Leer.
Ausgebrannt.
Tot.
Schuldig. So verdammt schuldig.
So fühlte ich mich, als ich mechanisch auf die Uhr über der Tür des sterilen, kalten Operationssaals blickte und mit brüchiger Stimme den Todeszeitpunkt des Mädchens vor mir auf dem Tisch bestimmte. Irgendjemand stellte das elendige Piepen der Maschine aus. Aus. Ende. Stille. Es war vorbei. Endgültig. Ein junges Leben, einfach ausgelöscht.
Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen, atmete durch, vergrub mich in der Dunkelheit meines Kopfes. Der Tod haftete an mir wie zäher Schleim. Er war kalt. Eiskalt. Als würde ich tiefer und tiefer in einen bitterkalten Abgrund sinken. In ein Meer aus Tränen, die mich wie einen Freund umfingen und nichts mehr denken ließen. Ich wollte nicht mehr denken. Ich hatte genug Entscheidungen getroffen. Vielleicht waren es die falschen gewesen, vielleicht die richtigen. Egal. Es hatte nichts genützt. Wie erleichternd es jetzt war, sich einfach fallen zu lassen, an nichts mehr zu denken. Alles aus meinem Kopf zu streichen, was mich die letzten Stunden beschäftigt hatte. Worum ich gekämpft hatte. Um ein Leben.
»Alice …« Ich spürte einen leichten Druck auf meiner Schulter, der mich aus der Dunkelheit an die Oberfläche holte. Ich schnappte nach Luft, öffnete die Augen.
Der Oberarzt warf mir einen prüfenden Blick zu. Zwei, drei Sekunden lang starrte ich ihn an, ordnete das Gewirr in meinem Kopf. Mechanisch nickte ich und zog mir dabei den Mundschutz vom Gesicht. Jetzt war mir heiß. Ich fühlte den Schwindel. Die aufsteigende Übelkeit. Ich musste hier raus.
»Es ist nicht deine Schuld, Alice.« Seine Stimme folgte mir, als ich die Gummihandschuhe von meinen Fingern zerrte und dabei über den gekachelten Fußboden Richtung Tür lief. »Du hast getan, was du konntest«, versuchte der Oberarzt mir das Gefühl der Schuld zu nehmen. »Ich rede mit ihren Eltern.«
Ich lächelte müde. Ja, er meinte es gut, das wusste ich. Es war keine Floskel, er meinte, was er sagte. Doch das war vergebene Mühe, denn meine innere Stimme sprach eine andere Sprache. Weniger mitfühlend, sondern schuldzuweisend. Und ich war schwach und kraftlos. Dennoch blieb ich stehen, atmete noch einmal tief durch und drehte mich dann langsam zu ihm um.
»Aber das war nicht genug.«
Ich wandte mich wieder von ihm ab, entledigte mich des OP-Kittels und verließ den Operationssaal. Schließlich stürzte ich raus auf den Flur, wo mich das alltägliche Chaos der Notaufnahme in Empfang nahm. Ein Chaos, das an jedem anderen Tag tröstlich gewesen wäre. Das mich in sich aufgenommen und mitgerissen hätte. Das mich einfach nur hätte agieren lassen, wie ich es seit Jahren tat. Tag für Tag.
Aber diesmal hörte ich weder das Schreien des Unfallopfers vor mir noch die Anweisu