Westchester County, New York, September 1903
„Ich glaube, ich habe ein Problem“, sagte ich.
Mrs. Sullivan sah mit scharfem Blick von ihrer Näharbeit auf. Eine rasche Abfolge von Gefühlen huschte über ihr Gesicht – Schreck, Bestürzung, Abscheu –, dann sagte sie schließlich: „Nun, ich schätze, solche Dinge passieren. Zum Glück haben Sie das Hochzeitsdatum schon festgesetzt. Es wäre nicht das erste erstaunlich frühe Kind.“
„Was?“ Es dauerte einen Moment, bis der Groschen fiel, dann lachte ich. „Nein, nichts dergleichen. Ich meinte nur, dass ich dieses Mieder womöglich verkehrtherum zusammengenäht habe.“ Ich hob das fragwürde Machwerk in die Höhe.
Sie nahm es mir ab, begutachtete es und seufzte. „Du liebe Güte, Kind. Wie haben Sie es nur geschafft, aufzuwachsen, ohne grundlegende Nähkenntnisse zu erwerben? Hat Ihre Mutter Ihnen denn gar nichts beigebracht?“
„Falls Sie es vergessen haben, meine Mutter starb, als ich zehn Jahre alt war“, sagte ich. „Danach musste ich zwar regelmäßig flicken und stopfen, doch das war auch schon alles. Ich habe auf jeden Fall noch nie solch feine Stoffe genäht.“
„Dann haben wir wohl Glück, dass wir nicht auch noch die Brautjungfernkleider machen müssen, oder nicht?“, murmelte sie ohne aufzusehen, während sie sich daran machte, meine Naht aufzutrennen. „Wobei es schade ist, dass wir kein kleines Blumenmädchen haben. Ich finde, das verleiht einer Hochzeit immer einen besonderen Charme. Ich habe vorgeschlagen, die Enkelin der Van Kempers’ zu bitten ...“
„Ich kenne die Enkelin der Van Kempers’ nicht“, sagte ich. „Es würde sich befremdlich anfühlen, eine Fremde in meine Hochzeitszeremonie einzubinden. Es gab nur ein junges Mädchen, das ich gernhatte – die kleine Bridie. Ich glaube, ich habe Ihnen von dem Kind erzählt, das ich aus Irland mitnahm und das eine Weile bei mir lebte. Ich habe ihrer Familie eine Einladung geschickt, aber keine Antwort bekommen, also nehme ich an, dass sie nicht mehr an mich denken.“ Ich seufzte. Oder sie glaubten, eine Hochzeit in Westchester County wäre zu hochtrabend für einfache, irische Bauern wie sie.
Mrs. Sullivan nickte und sah mich ausnahmsweise mal mit aufrichtigem Mitgefühl an. „Wirklich schade, dass Sie bei der Hochzeit kaum eigene Gäste haben werden, und überhaupt keine Familie – nicht mal diese beiden Brüder. Sie sind auf der Flucht vor dem Gesetz, sagten Sie?“
„Sie sind bei den irisch-republikanischen Freiheitskämpfern“, korrigierte ich, obwohl ich vermutete, dass sie sich noch gut genug daran erinnerte, was ich ihr erzählt hatte. „Ich weiß nicht einmal mehr, wo sie sind.“ Ich starrte über den taubedeckten Rasen hinweg. Eine Spottdrossel sang sich im Pflaumenbaum die Seele aus dem Leib. Hier war es so friedlich und sicher, während meine Brüder irgendwo unterwegs waren und noch immer für die irisch-republikanische Sache kämpften.
Ich saß mit Daniels Mutter auf ihrer Hollywoodschaukel, wo wir die sanfte Morgenluft genossen, eh der Tag zu heiß wurde, und an meiner Aussteuer arbeiteten. Immerhin hatte sie einen Großteil der Näharbeit übernommen, während ich hauptsächlich mit Auftrennen beschäftigt war. Jede entfernte Naht hinterließ eine Spur aus kleinen Löchern in der cremeweißen Seide.
Das Ganze war nicht meine Idee gewesen, glauben Sie mir. Ich hatte bereits um meine mangelhaften Fähigkeiten im Umgang mit der Nadel gewusst und hätte mein Hochzeitskleid liebend gern einem Schneider in Manhattan überlassen. Es war Daniels Idee gewesen. Er hielt es für eine gute Möglichkeit, um meine zukünftige Schwiegermutter besser kennenzulernen und gleichzeitig einige Hausfrauenfertigkeiten von ihr zu erlernen. Eigentlich kannte ich den wahren Grund: Er wollte mich an einem sicheren Ort außerhalb der Stadt wissen, damit ich nicht versucht wäre, noch irgendeinen Detektivauftrag anzunehmen.
In der Theorie hatte ich nichts dagegen, einige Wochen in der angenehm grünen Atmosphäre von Westchester County zu verbringen, während die Stadt in der schwülen Augusthitze brutzelte. Und ich hatte mich darauf gefreut, mich um nichts anderes kümmern zu müssen, als meine Aussteuer rechtzeitig zur Hochzeit im September fertigzustellen. Ich hatte genug Gefahr erlebt und war bereit zuzugeben, dass, wenn ich eine Katze gewesen wäre, ich mindestens acht meiner neun Leben aufgebraucht hätte. Doch die Realität meiner aktuellen Situation war nicht so angenehm, wie ich sie mir ausgemalt hatte. Während Daniels Mutter mich zwar um seinetwillen höflich empfangen hatte, hatte sie auch klargemacht, dass ich nicht ihren Erwartungen an die Ehefrau ihres einzigen Sohns entsprach. Sie und Daniels jüngst verstorbener Vater hatten sich Daniels gute Bildung vom Munde abgespart. Sie waren nach Westchester County gezogen, damit er Umgang mit den besten Familien hätte. Er hatte ihre Träume erfüllt, indem er der jüngste Police Captain von New York geworden war. Er hatte sich mit der Tochter einer dieser reichen Familien verlobt, hatte diese Verlobung dann