KAPITEL 2
St. Petersburg, Russland
»Wach auf.«
Olesya rieb sich die Augen. Zakhar, ihr älterer Bruder, hatte ihr die Worte ins Ohr geflüstert.
»Was willst du denn?«, fragte sie, während sie sich aufsetzte.
Zakhar hielt einen maschinengeschriebenen Brief in der Hand. Sie versuchte, den Brief zu lesen, aber einige der englischen Wörter waren zu schwierig.
Zakhar kicherte und faltete das Blatt auseinander, um ihr die russische Übersetzung zu zeigen.
»Ich bin … angenommen? Ich habe das Stipendium?«, fragte sie.
Er grinste. »Herzlichen Glückwunsch!«
»Wo hast du den Brief her?«, fragte sie.
»Ich habe ihn in der Küche gefunden«, sagte Zakhar. »Aber du musst die Überraschte spielen, wenn sie es uns morgen sagen.«
Olesya sah ihn an. »Wo ist dein Brief? Wurdest du auch angenommen?«
»Nein«, sagte er. »Mein Brief sieht anders aus.«
»Aber … ich gehe doch nicht ohne dich?«
Zakhar lächelte. »Du bist schon vierzehn, du schaffst das. Ich weiß, dass du das kannst.«
Sie sah ihren Bruder an. Er trug Jeans, seine Daunenjacke und eine Wollmütze.
»Wo gehst du hin?«, fragte sie.
»Ich werde einen Schneemann bauen«, sagte er. »Und ich werde das nicht allein machen.«
Sie runzelte die Stirn. »Mitten in der Nacht?«
»Die anderen Kinder machen das doch auch. Und es ist dein letztes Silvester, bevor du gehst.« Zakhar wackelte mit einer Augenbraue. »Du willst dir den Spaß doch nicht entgehen lassen. Es sei denn, du bist langweilig …«
Olesya stieß ihn leicht in die Seite. »Ich muss nur meine Stiefel finden …«
»Meinst du die hier?« Zakhar hielt sie bereits in den Händen.
Sie griff danach. »Zufallstreffer.«
Zakhar lief im Schlafzimmer hin und her, während sie sich einen dicken Pullover und eine Jeans über ihren Schlafanzug zog. Er hatte bereits ihren Schal und ihre Handschuhe herausgesucht. Olesya wollte gerade nach der Türklinke greifen, als ihr Zakhar die Hand auf den Arm legte.
»Das Fenster«, sagte er. »Geh immer durch das Fenster.«
Glücklicherweise befanden sie sich nur im ersten Stock, denn sie hatte etwas Höhenangst. Das Fenster knarrte, als er es öffnete, und sie hoffte, dass ihre Eltern das Geräusch nicht mitbekommen würden. Olesya konnte sie hören, wie sie mit den anderen Erwachsenen zusammensaßen. Sie teilten mit den anderen Oliviersalat, Champagner und lautstark erzählte Geschichten.
Ihre Stimmen waren die ganze Zeit über so laut, dass sie Zakhars Bewegungen übertönten, während er das Fenster so weit offenhielt, dass sie sich hindurchschlängeln konnte und ihr damit in die Winternacht hinaushalf. Sie ließ zu, dass er ihre Hand nahm und sie in Richtung Untergrundbahn zog, wobei die beiden den Fenstern ihrer Nachbarn auswichen. Die Fahrt in die Stadt würde nur fünf Minuten dauern und sie mussten nicht länger als eine Minute auf ihren Zug warten.
Es war fast zwei Uhr nachts, aber die Straßen waren mit Kindern und Erwachsenen gleichermaßen gefüllt. Sie beobachtete Kinder dabei, wie sie mit Holzschlitten einen Hügel hinunterfuhren und in einem Schneehaufen landeten. Wenn sie in der weißen Masse verschwanden, war ihr Lachen nur noch gedämpft zu hören.
Zakhars Nase war bereits von der winterlichen Kälte gerötet, als er sie eifrig in Richtung Brücke zog. Er wollte über den Kanal gehen, dessen Oberfläche durchgehend gefroren war, aber sie wollte nicht über das Eis rutschen und stattdessen die Brücke nehmen. Zakhar protestierte nicht dagegen, also gingen sie über die Brücke und erreichten danach den Palastplatz. Das hier waren die ersten Neujahrsfeierlichkeiten, die sie außerhalb ihrer Heimatstadt in Belarus erlebten, und sie hatten nicht mit so vielen Menschen oder Dekorationen gerechnet.
Vor dem Winterpalast, der aussah, als wäre er aus Pfefferminz und Sahne gebaut, waren größere Menschenmengen unterwegs. Olesya entdeckte Erwachsene, die Piroggen aßen, Teigtaschen, die mit Kohl, Pilzen oder Fleisch gefüllt waren, während die Kinder an süßen Pfefferkuchen knabberten. Einige der Familien tanzten um einen Weihnachtsbaum herum, in dem goldener Baumschmuck und lila, blaue und grüne Lichterketten glitzerten. Sie tanzten für Santa Claus –Väterchen Frost – und seine Enkelin, Schneeflöckchen.
Olesya drückte Zakhars Hand. »Lass uns tanzen.«
»Nööö«, sagte er, während sie ihn durch die Menschenmenge zog.
Sie waren bereits bei der am nächsten stehenden glitzernden Weihnachtstanne angekommen, als Zakhar den Reigen tanzender Kinder entdeckte und seine Hacken in den Schnee stemmte. Er streckte ihr die Zunge heraus u