KAPITEL ZWEI
21:45 Uhr Eastern Daylight Time
Situation Room
Weißes Haus
Washington D.C.
»Mr. Präsident, Ihre Gedanken?«
Clement Dixon hatte einen zentralen Gedanken: Er war zu alt dafür.
Er saß am Kopfende des Tisches und alle Augen waren auf ihn gerichtet. Während seiner langen Karriere in der Politik hatte er gelernt, Blicke und Gesichtsausdrücke zu lesen. Und das verriet ihm nun folgendes: Die hochkarätigen Leute, die den weißhaarigen Gentleman ansahen, der dieses Notfalltreffen leitete, waren alle zum selben Schluss gekommen wie Dixon selbst.
Er war zu alt.
Er war seit dem allerersten Ritt, im Mai 1961, ein Freedom Rider gewesen und hatte sein Leben riskiert, um zur Aufhebung der Rassentrennung im Süden beizutragen. Er war einer der jungen Redner auf der Straße während des Polizeiaufstands in Chicago im August 1968 gewesen und hatte Tränengas ins Gesicht bekommen. Er hatte dreiunddreißig Jahre im Repräsentantenhaus verbracht, war erstmals 1972 von den Bürgern Connecticuts dorthin geschickt worden. Er hatte zweimal als Sprecher des Repräsentantenhauses gedient, einmal in den 1980er-Jahren, dann wieder bis vor ein paar Monaten.
Jetzt, im Alter von vierundsiebzig Jahren, fand er sich plötzlich als Präsident der Vereinigten Staaten wieder. Es war eine Rolle, die er für sich selbst nie gewollt oder geplant hatte. Nein, Moment. Streich das – als er jung war, ein Teenager, Anfang zwanzig, hatte er sich vorgestellt, eines Tages als Präsident im Oval Office zu sitzen.
Aber das Amerika, das er sich vorgestellt hatte zu führen, war nicht dieses Amerika. Dies war ein geteilter Ort, der in zwei öffentlich anerkannte ausländische Kriege verwickelt war, sowie in ein halbes Dutzend verdeckte ›schwarze Operationen‹ – Operationen, die anscheinend so schwarz waren, dass die Leute, die sie überwachten, zögerten, sie ihren Vorgesetzten zu schildern.
»Mr. President?«
In seiner Jugend hätte er sich nie vorstellen können, Präsident eines Amerikas zu werden, das für seinen Energiebedarf immer noch völlig abhängig von fossilen Brennstoffen war, wo zwanzig Prozent der Bevölkerung in Armut lebten und weitere dreißig Prozent am Rande des Existenzminimums standen. Wo Millionen von Kinder jede Nacht hungern mussten und mehr als eine Million Menschen keinen Wohnraum hatten. Ein Ort, an dem der Rassismus noch lebendig war. Ein Ort, an dem Millionen von Menschen es sich nicht leisten konnten, krank zu werden, und die Menschen sich oft zwischen der Einnahme ihrer verschreibungspflichtigen Medikamente und dem Essen entscheiden mussten. Das war nicht das Amerika, von dem er geträumt hatte, es anzuführen.
Es war ein albtraumhaftes Amerika und plötzlich war er dafür verantwortlich. Ein Mann, der sein ganzes Leben damit verbracht hatte, für das, was er für richtig hielt, einzutreten, und für die höchsten Ideale zu kämpfen, musste nun durch den Dreck kriechen. Dieser Job bot nichts als Kompromisse und Grauzonen und Clement Dixon war mittendrin.
Er war schon immer ein religiöser Mensch gewesen. Und in diesen Tagen musste er daran denken, wie Christus Gott gebeten hatte, den Kelch an ihm vorbeiziehen zu lassen. Doch im Gegensatz zu Christus war sein Platz an diesem Kreuz nicht vorbestimmt gewesen. Eine Reihe von Missgeschicken und schlechten Entscheidungen hatten Clement Dixon in diese Lage gebracht.
Wenn Präsident David Barrett, ein guter Mann, den Dixon seit vielen Jahren kannte, nicht ermordet worden wäre, dann hätte niemand Vizepräsident Mark Baylor als Ersatz auserkoren.
Und wenn Baylor nicht mittels eines ganzen Berges von Indizien in diesen Mord verstrickt gewesen wäre (nicht genug, um ihn anzuklagen, aber mehr als genug, um ihn in Ungnade fallen zu lassen und aus dem öffentlichen Leben zu verbannen), dann wäre er nicht zurückgetreten und hätte die Präsidentschaft dem Sprecher des Repräsentantenhauses überlassen.
Und wenn Dixon selbst letztes Jahr nicht zugestimmt hätte, trotz seines fortgeschrittenen Alters noch eine weitere Amtszeit a