KAPITEL EINS
14. Oktober 2005
18:11 Uhr Lebanon Daylight Time
(11:11 Uhr Eastern Daylight Time)
Tripoli
Nördlicher Libanon
»Was sagt er?«
Der große, dünne Schütze mit den blonden Haaren starrte durch das Zielfernrohr des in China hergestellten QBU-88 Gewehrs. Der Mann hatte die letzten vierundzwanzig Stunden damit verbracht, sich mit diesem Gewehr vertraut zu machen. Es war ein Nachbau des alten russischen Scharfschützengewehrs, der Dragunov. Der Mann hatte in der Vergangenheit schon mal mit einer Dragunov geschossen. Dieses Gerät hier war besser.
Der Schüler hatte den Lehrer übertroffen. Die Chinesen waren die größten Nachahmer auf der Erde. Sie kopierten – und dann verbesserten sie es.
Der Mann lag auf dem Bauch im dichten Blattwerk eines Plateaus mit Blick auf die Stadt Tripolis, das Gewehr vor ihm aufgestützt. Vor seinem geistigen Auge konnte er sich die dunkle Schnauze dieses Dings vorstellen, die gerade so aus dem Gebüsch ragte. Er war sich sicher, dass er hier so gut wie unsichtbar war.
Zu seiner Linken und unter ihm standen uralte Steingebäude in vielen abblätternden und verblichenen Farben stramm wie Soldaten auf dem steilen Hang hinunter bis zum tiefblauen Meer.
Der Name des Schützen war nicht Kevin Murphy. Sein kanadischer Pass suggerierte, dass sein Name Sean Casey war. Sein Führerschein aus Ontario deutete dasselbe an. Ein Kanadier namens Sean Casey zu sein war eine sehr gute Sache. Und vor allem weitaus weniger gefährlich.
Er war einfach ein abenteuerlustiger, kanadischer Weltenbummler der sich Ziele abseits der ausgetretenen Pfade suchte. Wie diese heruntergekommene, zerfledderte, aber immer noch wunderschöne zweitgrößte Stadt des Libanon, die wie ein Juwel an der Mittelmeerküste thronte.
Hier gab es nichts zu sehen.
Noch vor einer Minute war die Sonne in einem spektakulären Feuerwerk aus Gelb und Orange unter das Meer geschlüpft – mit einem kurzen Aufblitzen von Grün am Ende. Der Schütze, der nicht Murphy hieß, hielt immer Ausschau nach diesem grünen Blitz. Er hatte ihn an so vielen Orten gesehen, dass er schon lange den Überblick verloren hatte.
Im Kreis von Nicht-Murphys Zielfernrohr befand sich ein Mann mit einem schwarzen Bart mit weißen Sprenkeln. Der Mann trug eine rot-weiß-karierte Kopfbedeckung. Sein Name war Abdel Aahad. Er war Mitte fünfzig, ein radikaler sunnitischer Kriegsherr und Milizenführer, der in den letzten zwanzig Jahren von dieser heruntergekommenen Stadt aus operiert hatte. Aber nicht mehr lange.
Aahad saß auf einer Terrasse, die etwa neunhundert Meter entfernt war – etwa neun Fußballfelder – und vielleicht drei Stockwerke tiefer. Es war ein schwieriger Schuss, genau an der Grenze der effektiven Reichweite dieser Waffe. Der Höhenunterschied machte es noch schwieriger. Die leichte Brise, die vom Meer kam, half auch nicht unbedingt.
Die Sonne war verschwunden. Die Dämmerung würde bald kommen. Wenn dieser Schuss passieren sollte, dann genau jetzt.
»Er hat gesagt: ›Töte den Kopf und der Körper wird sterben.‹«
Nicht-Murphy schaute seinen Späher an, einen Jungen namens Ferjal.
Ferjal war ein Rekrut der Hisbollah. Noch nicht achtzehn, hatte er verrückte, gefährliche Dinge getan, seit er vierzehn oder fünfzehn war. Er sah nicht einen Tag älter als zwölf aus. Er hockte tief kauernd neben Nicht-Murphy im Gebüsch – eine Sitzposition, die so viele Menschen in so vielen Teilen der Welt noch immer einnahmen.
Die Amerikaner hatten keine Verwendung für solche Kauerpositionen. Die Amerikaner hatten eine geniale kleine Erfindung namens »Stuhl«.
Nicht-Murphy wusste, dass Ferjal einen Kopfhörer in einem Ohr hatte und dem arabischen Gespräch auf der weit entfernten Steinterrasse zuhörte. Abdel Aahad hatte viele Freunde in dieser Welt, aber der Mann, der mit ihm auf der Terrasse saß, gehörte nicht dazu.
»Wirklich? Das