: Constanze Wilken
: Das Erbe von Carreg Cottage Roman
: Goldmann
: 9783641185565
: 1
: CHF 7.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 480
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die 35-jährige Lili Gray steht vor dem Nichts, als sie ihr Café in einem kleinen schottischen Küstenort schließen muss. Doch dann vermacht ihr ein Unbekannter ein altes Haus auf der Halbinsel Llyn in Nordwales. Die leicht verfallene Pilgerraststätte und der Garten an den Klippen ziehen Lili sofort in ihren Bann. Von dort blickt sie auf die Insel Bardsey, die eine unerklärliche Faszination auf sie ausübt. Aber Lilis Anwesenheit scheint jemanden zu stören, und die junge Frau ahnt nicht, wie sehr die Geschichte des Pilgerortes mit ihrer eigenen - und der des unbekannten Gönners verbunden ist ...

Constanze Wilken, geboren 1968 in St. Peter-Ording, studierte Kunstgeschichte, Politologie und Literaturwissenschaften in Kiel und promovierte an der University of Wales in Aberystwyth. Als Autorin ist sie sowohl mit großen Frauen- als auch mit historischen Romanen erfolgreich. Weitere Titel von Constanze Wilken sind bei Goldmann in Vorbereitung.

I

Cop y Goleuni, Nordwales, Anno Domini 614

Hear the voice of the Bard

Who present, past and future sees

Whose ears have heard

The holy Word

That walked among the ancient trees …

William Blake, first »Song of Experience«

Der Morgennebel lag über Wald und Hügeln. Knorrige Eichen wanden ihre Zweige im Zwielicht des anbrechenden Tages. Auf den uralten Bäumen wuchsen die heiligen Misteln. Die junge Frau stand am Fuße des Hügels, kalte, feuchte Luft haftete schwer an ihrem Umhang, doch sie hing ihren Gedanken nach und sog den Duft von Gras, Erde und Wald ein. Sie war eine Tochter der Muttergöttin, eine Gefährtin des Windes, ein Geschöpf des Meeres. Langsam breitete sie die Arme aus und ließ die Kräfte der Elemente durch sich hindurchströmen. Heute Nacht begann die dunkle Zeit des Jahres, der Winter löste die Herrschaft des Sommers ab.

Eine prickelnde Vorfreude floss durch ihre Adern. Heute Nacht lösten sich Zeit und Raum auf und öffneten die Tore zur Zwischenwelt. In dieser einen Nacht gab es weder Sommer noch Winter, die Oberwelt kam mit der Anderwelt in Berührung, die Geister der Toten mischten sich unter die Lebenden. Sie feierten Nos Calan Gaeaf, die Nacht des Winteranfangs, die erste der drei Geisternächte.

In der Ferne erwachte der Weiler. Die Bewohner entzündeten die Torffeuer, deren Qualm aus den Hütten stieg, ein Hund bellte, und Schafe blökten. Die Menschen fürchteten die Geisternächte, denn sie hatten Angst vor dem Tod, der doch nur ein Übergang in eine andere Welt war.

Die junge Frau warf die Kapuze zurück und strich sich lange rotbraune Haarsträhnen aus dem Gesicht. Der Blick ihrer dunklen Augen heftete sich auf den heiligen Hügel, glitt über den Wald, kehrte sich nach innen, und sie sah die Felder, das Moor und endlich die Klippen, hinter denen das Meer toste. Ihre Lider senkten sich, und während das Meer in ihren Ohren rauschte, roch sie Salz und Seetang und spürte die Gischt auf dem Gesicht.

Ein heiseres Krächzen riss sie aus ihren träumerischen Gedanken. Vor ihr hatte sich auf dem Ast einer Eibe ein Rabe niedergelassen und beäugte sie.

»Was bringt uns dieser Winter?« Sie zog den wollenen Umhang enger um sich. An ihren Oberarmen wanden sich frisch gestochene Schlangen, die ihre Z