Sie sind wohl nicht von hier
Mainz, ebenfalls am16. April1838
Julius schlug den Kragen seines Gehrocks hoch. Obwohl tagsüber die Sonne geschienen hatte und es schon recht warm gewesen war, wurde es abends immer noch empfindlich kalt. Bedauernd dachte er an Marseille zurück. Dort begann der Sommer wesentlich früher. Doch diese schöne Zeit war erst einmal vorbei, seine Ersparnisse waren beinahe aufgebraucht. Es würde nur noch wenige Wochen dauern, bis er endgültig pleite war. Er musste dringend eine neue Möglichkeit finden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Er lief am Dom vorbei in Richtung Leichhof und bog auf der Suche nach einem Wirtshaus, in dem er ein oder auch zwei Gläser Wein trinken konnte, in die Augustinergasse ein. Der Gasthof in der Nähe des Holzturms, in dem er für die Nacht untergekommen war, hatte ihn enttäuscht. Der Eintopf war fade gewesen, und das Brot hatte schimmlig geschmeckt. Dunkel und verrußt, wie die Gaststube war, hatte er zudem nicht einmal sehen können, was er aß. Also wollte er den Abend wenigstens mit einem ordentlichen Riesling beschließen.
Vor einer Wirtsstube mit dem NamenLe Coq au Vin blieb er stehen. Er war seit zwanzig Jahren nicht mehr in Mainz gewesen und nicht wenig überrascht, wie viel sich aus der Franzosenzeit gehalten hatte. Das Französische hatte die Sprache und die Gewohnheiten durchdrungen, und man hatte es offenbar nicht eilig, es wieder loszuwerden. Ihm sollte es recht sein. Nach den langen Jahren, die er in Frankreich verbracht hatte, fühlte er sich ohnehin als halber Franzose. Die Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren, war ihm nicht leichtgefallen. Trotzdem war seine Erleichterung groß gewesen, als er vor nicht einmal achtundvierzig Stunden die Grenze ohne Probleme überquert hatte. Und wie die Dinge standen, würde er wohl bis auf weiteres hierbleiben.
Zwei Gestalten näherten sich, die mit gedämpften Stimmen miteinander sprachen. Der Silhouette ihrer Kopfbedeckungen nach zu schließen, waren es Polizisten. Julius hatte keine Lust, ihnen zu begegnen, öffnete die Tür zur Wirtsstube und trat ein. Schwüle Wärme, Pfeifenqualm und der Lärm vieler Menschen schlugen ihm entgegen. Laternen und Kerzen an den Wänden und auf den Tischen verbreiteten ein schummriges Licht. Julius’ Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an die schwache Beleuchtung gewöhnt hatten. Nach der Leere, die draußen geherrscht hatte, erschien ihm das Lokal übervoll. Bestimmt ein Drittel der Anwesenden waren Soldaten, aber auch ein paar wenige Frauen befanden sich unter den Gästen, und ein rotwangiges hübsches Schankmädchen bahnte sich soeben den Weg zu einem der Tische. Die Stimmung war ausgelassen, einen freien Sitzplatz sah er nicht. Er bestellte beim Wirt einen Schoppen, blieb am Schanktisch stehen und ließ seinen Blick durch den Raum wandern.
Ein Mann fiel ihm auf, der zwar inmitten einer lärmenden Gruppe saß, jedoch nicht dazuzugehören schien. Er war ein wenig jünger als er selbst, vielleicht Mitte oder Ende dreißig, hatte rötliche kurze Locken, einen Backenbart und eine Weste mit Uhrkette, was auf einen Sekretär oder Kaufmann schließen ließ. Seinen Rock hatte er über die Stuhllehne gehängt. Der Mann bemerkte seinen Blick und nickte ihm freundlich zu, und als einige Minuten später der Platz neben ihm frei wurde, setzte Julius sich zu ihm.
»Gestatten, Julius Mertens mein Name«, stellte er sich vor und hob sein Glas zur Begrüßung.
»Wilhelm Weinschenk«, sagte der Mann und hob ebenfalls sein Glas. »Ich hab Sie reinkommen sehen. Sie sind wohl nicht von hier?«
»Wie man’s nimmt. Aus der Gegend, aber ich war lange im Ausland.«
Weinschenk rieb sich das Kinn und studierte das Aussehen seines Gegenübers, als betrachtete er ein wissenschaftliches Exponat. »Mal sehen. Natürlich, ich hab’s. Sie kommen aus Wiesbaden!«
»Knapp daneben. Frankfurt.«
»Ha! Hab ich doch gleich gewusst, dass Sie kein Mainzer sind!«
»Und was ist mit Ihnen?«
»Ja, hört man das denn nicht?«, erwiderte Weinschenk. »I