2. DEZEMBER
Lena war früh wach. Ihr Wecker hatte noch nicht geklingelt, und draußen war tintenschwarze Nacht, also musste es noch vor acht Uhr sein.
Vorsichtig richtete sie sich auf. Während sie geschlafen hatte, war Ruprecht in ihr Bett geschlüpft, und jetzt lag er leise japsend in einer Federkissen-Kuhle zusammengerollt neben ihrem Kopf, den Puschelschwanz um seinen Körper geschlungen. Sie strich ihm zart über das glatte Fell und verharrte einen kurzen Moment. Dann kam ihr ein Gedanke, der einen Schwarm Glühwürmchen durch ihren Bauch schwirren ließ. Gab es vielleicht schon ein neues Postkärtchen von Oma Greta?
Schnell schlüpfte sie in ihre flauschigen Puschen, zog den Mantel über den Pyjama und eilte nach unten zum Briefkasten. Nur die Morgenzeitung! Enttäuscht zog Lena sie heraus und schloss die Klappe wieder. Entweder war der Postbote noch nicht da gewesen, oder er hatte heute nichts für sie dabeigehabt. Was hatte sie erwartet? Dass Oma Greta ihr jetzt jeden Tag von ihrer Puderwolke einen Brief schickte? Seufzend ging sie wieder ins Haus, um sich anzuziehen und zu frühstücken. Danach würde sie wahrscheinlich alle zwei Minuten auf die Uhr sehen. Vielleicht würde sie auch versuchen, den Zeiger dazu zu überreden, sich schneller fortzubewegen, oder sie würde vor Nervosität durchdrehen, bis Onkel Nikolaus’ Kanzlei endlich besetzt war und sie nach dem Rest des Adventskalenders fragen konnte.
Eine Stunde später wartete Lena aufmerksam auf das Freizeichen und das erlösende Klicken, das ertönte, wenn jemand am anderen Ende der Leitung abnahm.
Da war es!
»Notariat Himmelreich und Sohn, Magda Frohsinn am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?« Eine angenehme Frauenstimme trällerte die Worte beinahe wie einen Weihnachtsschlager in Lenas Ohr.
»Hier ist Lena Sonnenschein. Könnte ich bitte Herrn Himmelreich senior sprechen?«
»Oh, Liebes, Herr Himmelreich hat deinen Anruf schon erwartet. Ich darf doch du sagen? Der Chef hat schon so viel von dir erzählt.«
Lena lächelte. »Aber gerne!«
»Fein«, flötete Frau Frohsinn. »Allerdings tut es mir sehr leid: Herr Himmelreich ist heute nicht im Haus. Außentermine, du verstehst? Ich schreibe ihm aber gern eine Nachricht. Dann meldet er sich morgen bei dir.«
»Oh ja, das wäre nett.« Lena konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen, verabschiedete sich aber höflich und legte auf. »Dann warten wir eben bis morgen«, seufzte sie und sah auf Ruprecht hinab, der Nuss für Nuss aus der Schale piepsend in seinem Kobel verstaute.
Wenn sie frustriert war, traurig oder verärgert – oder alles auf einmal –, half Lena eines ganz besonders: in ihrer kleinen Backküche im hinteren Teil vonFräulein Gewürzzauber zu wirbeln und neue Leckereien für ihre Kunden zu kreieren. Es war ein magischer Ort. Der geheimnisvolle Duft orientalischer und heimischer Gewürze und der honigsüße Schokoladengeruch verströmten eine göttliche Sinnlichkeit, die sie immer beflügelte und ihr ein unbeschreibliches Wohlbehagen schenkte.
Genau das brauchte Lena jetzt. Bis sie das Lädchen öffnen würde, blieben ihr noch fast zwei Stunden für eine kleine Backsession gegen ihr Grummeln im Bauch. Also spurtete sie die Treppe hinunter und durch die schwere Holztür in ihre Süßigkeiten-Wunderwelt. Die Lichterketten im Schaufenster verwandelten den Verkaufsraum mit ihrem schummrigen Schein in eine Wohnstube