: Monika Maron
: Was ist eigentlich los? Ausgewählte Essays aus vier Jahrzehnten
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455011647
: 1
: CHF 15.80
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 180
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
 Zum 80. Geburtstag von Monika Maron am 3. Juni 2021: Ausgewählte Essays aus vier Jahrzehnten von einer großen Schriftstellerin, die immer schon zu aktuellen Debatten und gesellschaftspolitischen Themen Stellung bezog und die sich nie vereinnahmen ließ. Poetisch, elegant, humorvoll und unerschrocken. 

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentliche zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017). Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt die Erzählung Bonnie Propeller (2020) und der Essayband Was ist eigentlich los? (2021).

Zonophobie


Seit ich von Osten nach Westen reisen durfte und die deutsche Teilung sich für mich durch sinnliche Anschauung aus der historischen Gewissheit in reine Absurdität verwandelte, fing ich an, mich dafür zu interessieren, wer warum die Teilung Deutschlands wollte: warum die Linken, warum die Franzosen, die Russen, die Engländer, die Vereiniger Westeuropas, eigentlich alle außer Martin Walser und vermutlich der Hälfte aller Ostdeutschen. Ich selbst begann in dem Maße die deutsche Einheit zu wollen, wie die Argumente für die deutsche Teilung mir verdächtig wurden.

Inzwischen ist mir die Einheit zum Albtraum geworden, und das nicht, weil irgendeiner ihrer Gegner recht behalten hätte: die Linken oder die Franzosen, die Engländer oder Russen; auch nicht, weil die sächsischen Chemiearbeiter nicht mehr unter den tropfenden Säureleitungen hantieren dürfen und stattdessen arbeitslos sind; auch nicht, weil die Mieten steigen, Spekulanten glückliche Zeiten haben, mittelmäßige Wissenschaftler aus westlichem Sonstwoher die ostdeutschen Lehrstühle okkupieren, das alles gehört zu Nachkriegszeiten. Wir leben in einer verspäteten Nachkriegszeit.

Die Einheit ist mir zum Albtraum geworden, weil der Osten, wo er sich als solcher artikuliert, mir unüberwindlichen Ekel verursacht. Alles hat sich in Ekel verwandelt: mein Mitleid, meine Anteilnahme, mein Interesse. Ich weiß, dass ich ungerecht bin, und kann es nicht ändern. Ich halte es für eine Krankheit und weiß nicht, wie man sie heilt. Die Krankheit nenne ich Zonophobie.

Ich will versuchen, die Symptome wahrheitsgetreu zu beschreiben. Möge ein gerechterer Mensch als ich befinden, ob der Defekt bei den Betrachteten liegt oder beim Betrachter oder bei beiden. Ich nehme mir das Recht zur Ungerechtigkeit, ein paar Seiten lang, einmal ausatmen nur, nachdem ich von meiner bemühten Gerechtigkeit schon ganz kurzatmig geworden bin.

Schon auf der Autobahn von Hamburg nach Berlin erkenne ich sie, ohne ihre Nummernschilder zu entziffern: Wer unbeirrt auf der linken Spur fährt, weil er irgendwo am Horizont einen Trabant oder Lastwagen vermutet, ist aus dem Osten. Was man hat, das hat man, in diesem Fall die linke Spur. Wer an einer Auffahrt beflissen und todesmutig links rausfährt, ohne sich um heranrasendeBMW- und Porscheherden zu kümmern, ist aus dem Osten. Er zeigt, dass er gelernt hat.

Sturer Trotz und peinliche Beflissenheit sind überhaupt die prägenden Züge derzeitigen ostzonalen Verhaltens. (Spätestens hier muss ich wohl sagen, dass ich alle ausnehme, die sich wie vernünftige, auf die Wechselfälle des Lebens vorbereitete Einzelmenschen benehmen. Die waren vor89 anders und sind es auch jetzt.)

Wenn meine masochistische Neugier mich treibt, in der Pankower Kaufhalle – ehemalsHO, jetzt Spar – einzukaufen, und ich sie, mit denen mich eine Vergangenheit als Konsument des Staatlichen Handels eint, bei ihren Beschaffungsaktionen beobachte, reagiere ich wie ein Allergiker, dem eine Katze auf den Schoß springt. Ich muss mich beherrschen, um ihnen ihre ekelhaft großen Fleischpakete oder ein süßes balkanesisches Perlgesöff namens Canei nicht