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Malik
»Abraa! Abraa! Kommt und versammelt euch – hier beginnt gleich eine Geschichte!«
Der Singsang der Griotte strich durch die sengend heiße Wüstenluft, vorbei an den Eselgehegen und edelsteingeschmückten Wohnanhängern der Zeltsiedlung vor dem Westtor des Stadtstaates Ziran. Instinktiv reagierte Malik auf den Ruf und wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme der Geschichtenerzählerin kam. Unwillkürlich umklammerte er den Tragegurt der Umhängetasche über seiner Schulter fester.
Die Griotte war eine untersetzte Frau, fast einen ganzen Kopf kleiner als Malik, und ihr Mund dehnte sich zu einem zähneentblößenden Grinsen. Jeder Zoll ihrer dunkelbraunen Haut war mit wirbelnden, knochenweißen Tätowierungen verziert und voller Symbole, die Malik nicht verstand.
»Abraa! Abraa! Kommt und versammelt euch – hier beginnt gleich eine Geschichte!«
Nun wurde der Ruf vom stetigen Rhythmus einer Djembé-Trommel untermalt, und binnen weniger Minuten hatte sich eine beachtliche Menschentraube bei dem Baobab versammelt, unter dem sie stand. Es war die perfekte Zeit für eine Geschichte – diese Stunde, in der die Abenddämmerung in die Nacht überging und das letzte schwache Sonnenlicht den Himmel noch erhellte, während die Welt darunter schon in Dunkelheit getaucht war. Die Zuhörer setzten sich auf umgedrehte Kisten und zwischen abgenutzte Karren und blickten alle paar Minuten suchend zum Himmel hinauf, obwohl Bahias Komet erst in ein paar Stunden erscheinen und den Beginn des Solstasia-Festes ankündigen würde.
Die Griotte rief ein drittes Mal, und Malik ging einen weiteren Schritt auf sie zu, dann noch einen. Als die Zirani seine Heimat im Eshran-Gebirge erobert und besetzt hatten, waren die Griots die Ersten gewesen, die gegangen waren. Doch die wenigen Verbliebenen hatten einen tiefen Eindruck in Maliks Seele hinterlassen. Einem Griot oder einer Griotte zuzuhören war, als würde man eine neue Welt betreten. Eine Welt, in der Helden durch den Himmel tanzten und Geister ihnen folgten. Eine Welt, in der Gottheiten mit einer einzigen beiläufigen Bewegung ganze Berge schufen. Maliks Körper schien sich von allein in Bewegung zu setzen, gefangen im hypnotischen Lockruf der Frauenstimme.
Zwei Monate lang waren seine Schwestern und er durch die Wüste Odjubai gereist. Ihre einzige Gesellschaft waren das Knarren des falschen Karrenbodens, unter dem sie sich versteckten, der Wind, der durch die Dünen heulte, und das leise Wimmern der anderen Geflüchteten gewesen. Was konnte es schon schaden, sich eine einzige Geschichte anzuhören und nur einen Moment lang zu vergessen, dass sie kein Zuhause mehr hatten, zu dem sie zurückkehren konnten, und kein …
»Malik, pass auf!«
Eine kräftige Hand packte ihn am Kragen, und er stolperte zurück. Den Bruchteil einer Sekunde später landete ein ledriger Fuß von der Größe einer kleinen Kuh stampfend auf der Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte. Ein Schatten schob sich über Maliks Gesicht, während der Chipekwe vorüberschlenderte und bei jedem donnernden Schritt Sand und Kiesel aufwirbelte.
Als Kind hatte Malik Geschichten über Chipekwes gehört, aber keine der Erzählungen hatte die gigantische Größe dieser Kreaturen einfangen können. Sie jagten Elefanten in der Savanne, und mit ihrem gepanzerten Kopf hätten sie mit Leichtigkeit das Dach des alten Hofhauses seiner Familie durchbrechen können. Das spitze Horn, das ihnen aus der Nase spross, war fast so groß wie Malik selbst.
»Willst du dich umbringen?«, fauchte Leila, nachdem der Schatten des Chipekwes vorübergezogen war. Über ihre schiefe Nase hinweg funkelte seine ältere Schwester ihn an. »Pass auf, wohin du gehst!«
Die Wirklichkeit sickerte zurück in Maliks Körper wie ein Tropfen aus einem rostigen Wasserhahn, und allmählich wurde der Ruf zur Geschichte von den Stimmen der Wagenfahrer übertönt, die ihren Tieren Befehle zubrüllten. Von den Melodien der Musizierenden, die ihr Publikum mit Sagen von vergangenen Solstasia-Festen unterhielten, und von den anderen Klängen der Zeltsiedlung. Ein paar Leute waren stehen geblieben, um diesen Trottel anzustarren, der sich fast zu Tode hätte trampeln lassen, und das Gewicht ihrer Blicke ließ Malik die Hitze ins Gesicht steigen. Er drehte an seinem zerschlissenen Tragegurt herum, bis ihm das Leder in die Handfläche schnitt. Schatten huschten am Rand seines Blickfelds umher, und er drückte die Augen so fest zu, dass es wehtat.
»Tut mir leid«, murmelte er.
Ein kleiner Kopf, umgeben von einer Wolke fröhlicher, springender dunkler Locken, tauchte hinter Leila auf. »Hast du das gesehen?«, rief Nadia. Seiner jüngeren Schwester stand vor Staunen der Mund offen. »Der war … mindestens eine Million Fuß hoch! Ob der wegen Solstasia hier ist? Kann ich ihn mal anfassen?«
»Er ist sehr wahrscheinlich wegen Solstasia hier, weil jeder wegen Solstasia hier ist«, gab Leila zurück. »Und du fasst hier gar nichts an.« Sie wandte sich wieder an Malik. »Gerade du solltest es eigentlich besser wissen, als einfach so davonzuschlendern.«
Malik umklammerte seinen Tragegurt noch fester. Es hatte keinen Sinn, seiner großen Schwester erklären zu wollen, welche Macht ein Ruf zu ei