: Monika Maron
: Endmoränen
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455012880
: 1
: CHF 9.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das Herz altert nicht I n einer nordöstlichen Endmoränenlandschaft versucht Johanna, ihren biographischen Standort zu bestimmen - und stellt sich der Frage, wie der Rest des Lebens noch genutzt werden könnte.  Johannas entschlossene und lebenskluge Freundin Elli benutzt das Wort Glück seit langem nur in seinen trivialen Zusammenhängen. Die erfolgreiche Malerin und Erbin eines Verwalterhauses Karoline Winter, vor jeder Flugreise in Todesangst, verzweifelt am Verfassen ihres Testaments, weil sie keine Erben hat. Christian, der alte Freund aus München, Lektor in einem Wissenschaftsverlag, erlebt den Sturz in die Bedeutungslosigkeit. Die Lebensentwürfe aller scheinen erschöpft, und die Zeit vor ihnen ist noch lang.  

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentliche zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017). Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt die Erzählung Bonnie Propeller (2020) und der Essayband Was ist eigentlich los? (2021).

Vor drei Jahren habe ich zum ersten Mal bemerkt, dass ich erleichtert war, als der Herbst kam. Vielleicht war es im Jahr davor auch schon so gewesen und im Jahr davor auch, und es war mir nur nicht bewusst geworden, dass sich etwas verändert hatte, dass offenbar ich mich verändert hatte, schleichend und undeutlich, sonst hätte ich den Wandel nicht erst bemerkt, nachdem er ganz und gar vollzogen war und ich nicht mehr sagen konnte, wann er begonnen hatte. Nur dass die Zeit, in der ich den Abschied vom Sommer als eindeutigen Verlust, als Zumutung, sogar als Schmerz empfunden habe, länger als drei Jahre zurückliegen muss, weiß ich genau. Der letzte Sommer, dessen ich mich nachträglich als ganz und gar frei von jenem Missbehagen erinnere, das ihn mir später fast verleidete, war unser erster Sommer in Basekow. Und das war schon vor dreizehn Jahren. Das war auch der Sommer, in dem Irene starb. Ihre Familie hatte mich nicht finden können, als Irene vor ihrem Tod mich, nur mich noch einmal sehen wollte. Wären diese beiden Ereignisse nicht zusammengefallen, Irenes Tod und der Erwerb eines Landhauses, wäre Irene für mich wohl eine jener Schulfreundschaften geblieben, die sich, eine freundliche Erinnerung hinterlassend, im Leben langsam verlieren und die im Falle eines frühen Todes des einen ein kleines aufrichtiges Bedauern im Überlebenden entfachen, vor allem aber, sofern der Tod nicht durch einen Unfall, sondern durch Krankheit verursacht wurde, das Erschrecken über einen Jahrgangstoten. So aber gehört Irene für immer zur Geschichte des Hauses und meines ersten Sommers in Basekow, der zugleich der letzte war, den ich nachträglich meiner, wenn auch späteren, Jugend zurechne.

In den Jahren vor ihrem Tod habe ich Irene höchstens zwei- oder dreimal im Jahr und dann auch nur zufällig getroffen, zum letzten Mal an einem warmen Abend in der Buchhandlung am Rathaus. Sie kam mit zu mir, und wir tranken Wein auf dem Balkon. Irene und ich waren zusammen zur Schule gegangen, zuerst in die Grundschule, dann in die Oberschule. Irene studierte Slawistik, ich Germanistik, manchmal trafen wir uns in Vorlesungen bei den Philosophen. Während der Grundschulzeit waren wir Freundinnen. Wir haben uns auch später gemocht, sahen uns aber kaum noch. Irene war, was meine Tante Ida verwachsen nannte. Ihre Beine standen stockdünn auf langen Füßen in orthopädischen Schuhen, die mageren, behaarten Arme reichten fast bis zu den Knien, weil Irenes Wirbelsäule zwischen den Schulterblättern verkrümmt war und ihren Oberkörper um zehn oder zwölf Zentimeter verkürzte. Später spendete die ganze Verwandtschaft Geld, und Irene konnte im West-Berliner Oskar-Helene-Heim operiert werden. Die Wirbelsäule wurde begradigt, konnte nun aber nicht mehr wachsen. Und auch das Korsett aus Stahl und Leder musste Irene noch tragen.

Als wir uns zum letzten Mal sahen, waren wir beide fast vierzig, und Irene wohnte immer noch bei ihrer Mutter. Ich weiß nicht mehr, worüber wir uns unterhalten haben. Aber seit einem anderen Abend, der einige Jahre zurücklag, sprachen wir in einem vertrauten, fast intimen Ton miteinander, als hätten wir seit unserer Kinderfreundschaft nie aufgehört, einander in unsere Geheimnisse einzuweihen und an unserem Leben teilhaben zu lassen.

Auch an diesem früheren Tag muss ich, weil wir uns nie verabredet hatten, Irene auf der Straße getroffen und in meine Wohnung eingeladen haben. Wir saßen in den Sesseln am Fenster zum Hof, die Sonne stand tief und tauchte das Zimmer in rosa Lic