: Günter Görlich
: Das Liebste und das Sterben Roman einer Familie
: EDITION digital
: 9783965216877
: 1
: CHF 8.70
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: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 841
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Ihr wisst es, wie es kam. Es musste nicht so kommen.' Diesen Gedanken des früheren expressionistischen Dichters und späteren ersten DDR-Kulturministers Johannes R. Becher hat Görlich diesem 'Roman einer Familie' vorangestellt. Die Familie ist die Berliner Arbeiterfamilie Wegener. Vor allem aber ist es der Roman der beiden Söhne Arthur und Willi. Die Handlung setzt im Frühjahr 1939 ein: Wie das Radio berichtet, ist die deutsche Wehrmacht im Schneegestöber in Prag einmarschiert - am 15. März 1939. Arthur und Willi arbeiten zu dieser Zeit in der gleichen Bude, in den Temler-Werken, wo Flugzeugmotoren produziert werden und die bald zu einem nationalsozialistischen Kriegsmusterbetrieb aufgebaut wird. Die Risse in der Familie zeigen sich sehr deutlich an einem Maisonntag 1939, als Vater Hermann Wegener 60 wird und ein bisschen gefeiert wird. Auch Arthur und Willi und ihre Frauen kommen zu Vaters Ehrentag - aber nicht gemeinsam. Es wird Bier getrunken und vorsichtig geredet, um nichts Falsches zu sagen. Doch es kommt trotzdem zum heftigen Streit: Vera sagte, als die kleine Monika ins Zimmer kam und sich an sie schmiegte: 'Wie schön es heute die Kinder haben, Vater. Wenn du an deine Kinderzeit zurückdenkst, nicht? Ach, wie schön es unsere haben.' Alle sahen auf Monika, auf ihr Stupsnäschen und nickten. Nur Arthur sagte: 'Hoffentlich haben es die Kinder noch lange so, hoffentlich.' Eigentlich war das keine besonders überlegte Bemerkung. Es waren nur seine Gedanken, die er aussprach, weil er manches wusste und ahnte. Er wollte auch keinen damit treffen. Willi warf den Kopf hoch, und erregt fragte er: 'Was meinst du damit?' Die Frage ließ alle aufhorchen. Arthur hätte jetzt sagen können, dass er das ganz allgemein gemeint habe. Aber als er die Wut in Willis Blick bemerkte, den vor Spannung halb offnen Mund der Vera sah, die noch immer die Hand auf dem Wuschelkopf der Monika liegen hatte, diese saubere und gesunde deutsche Familie, da sagte er: 'Ich meine, man jagt uns dem Krieg entgegen.' Er fuchtelte mit den Händen in der Luft umher und schrie: 'Du bist immer der gleiche, du bist ein Hetzer.' Schon immer habe er schweigen müssen, weil der Herr Bruder die Weisheit mit Löffeln gefressen habe. Im Werk müsse er Angst haben, schief angeguckt zu werden und sich mit seinen Vorgesetzten zu verfeinden. Alles setze er, der fanatische Kommunist, aufs Spiel, die ganze Familie bedrohe er. Er habe keine Kinder, werde wohl nie welche haben, deshalb könnten er und Maria so sein.

Günter Görlich Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin. Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist. Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim. 1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch 'Der Schwarze Peter' den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur. Weitere Auszeichnungen: Kunstpreis des FDGB 1966, 1973 Nationalpreis 2. Klasse 1971 Held der Arbeit 1974 Nationalpreis 1. Klasse 1978 Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979 Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979 Ehrenspange zum VVO in Gold 1988 Goethepreis der Stadt Berlin 1983
An einem Junitag holten sie Arthur aus der Einzelzelle im Zuchthaus Brandenburg. Er erwartete neue Quälereien und fröstelte, als er vor dem Zuchthausbeamten die hallenden Gänge entlangging. Wochenlang hatten sie ihn in Ruhe gelassen. Er war allein in der Zelle, allein im Dunkeln, allein vor den steinernen Wänden, und seine Tage waren nur geregelt durch die stumpfe Monotonie des Zuchthauslebens. Arthur wartete auf den Prozess. Er wusste, dass der Prozess vor dem Volksgerichtshof für die meisten von ihnen das Todesurteil bringen würde. Bis jetzt hatte die Gestapo gezögert. Von Erich Fischer und den anderen wusste Arthur nichts. Erst bei dem Prozess würde er sie wahrscheinlich wiedersehen. Er fürchtete sich davor. Er wusste, wie er sich in den letzten Monaten verändert hatte. Aus dem Spiegel, den er zum Rasieren bekam, schaute ihm ein faltiges, altes Gesicht entgegen. Der Beamte führte ihn nicht in das berüchtigte kahle Zimmer, das Arthur von seinen Vernehmungen her kannte. Auf dem düsteren Hof wartete ein Gefangenenwagen. Arthur erfasste ein Schwindelgefühl. Er spürte die warme Luft. Es roch nach blühenden Linden. Ganz in der Nähe mussten sie blühen. Er blieb stehen, atmete tief und lächelte. 'Los, weiter', befahl der Beamte. 'Das Grinsen wird dir noch vergehen, unter Garantie.' Er stieß Arthur zum Auto. Sie legten ihm Handschellen an. Zwei Zivilisten stiegen ein. Einer wies Arthur darauf hin, dass er beim geringsten Fluchtversuch erschossen würde. Er zog eine flache Pistole aus der Jackentasche und wog sie in der Hand. Der Mann hatte ein müdes, aschfahles Gesicht und kalte, gleichgültige Augen. Arthur dachte: Natürlich wirst du schießen. Müde siehst du aus. In der jetzigen Lage ist es nicht so einfach, Gestapo zu sein. Sie hetzen euch umher, eure Führer. Flicken sollt ihr das bröcklige Gebäude des tausendjährigen Reiches. 'Glotz nicht so dämlich', sagte der mit dem müden Gesicht. 'Schau dir lieber die Welt noch mal an. Wenn du sie auch bloß durchs Gitter siehst. Jedenfalls ist es die Welt. Du hängst doch an der schönen Welt, was? Du glaubst doch sowieso nicht an den lieben Gott.' Er lachte kurz und verdrossen auf. Arthur befolgte den Befehl. Sonnenüberflutet waren die Straßen und die Felder. Seit seiner Verhaftung waren Monate vergangen. Grauenhafte Monate, angefüllt mit bestialischen Verhören, abstumpfender Einzelhaft, immer wieder niedergekämpfter Furcht, voller Zweifel und Angst und Hoffnung und mit der unstillbaren Sehnsucht nach einer bunten, sonnenüberfluteten Welt. Jetzt zog sie an seinen Augen vorüber wie ein Film. Noch nie in seinem Leben hatte er versucht, so angespannt jede Kleinigkeit festzuhalten: die Leute auf der Straße, die Radfahrer auf ihren alten, klapprigen Rädern, Kinder in hellen Kleidern, die Dörfer, die Straßenschilder, von denen die Farbe abbröckelte. Sie fuhren an einem Flugzeugwrack vorüber, einem britischen Bomber, kenntlich durch die Kokarde. Vor dem zersplitterten, verbrannten Rumpf stand ein alter Soldat mit einem langen Gewehr. Er jagte die Kinder fort, die sich vor dem abgeschossenen Flugzeug drängten. Später rollte der Gefangenenwagen über die Brücke in der Nähe von W