: Andrea Hensgen
: Die neuen Bekanntschaften der Nora Budweis
: Lindemanns
: 9783963081507
: 1
: CHF 8.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 288
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Frau verlässt ihre vertraute Umgebung, zieht in eine Großstadt und tritt dort eine neue Stelle an. Warum ist die Geschichte von Nora Budweis lesenswert? In großen Worten: Diese Frau sucht nach einem Platz in der Welt, der es ihr erlaubt, in der Wahrheit zu leben. Ein radikaler Anspruch, der all jene irritiert, die sich in den üblichen Kompromissen eingerichtet haben. Nora Budweis ist keine zwanzig mehr, sondern vierzig Jahre älter, und stellt sich nüchtern den Folgen ihres Auftritts in der neuen Stadt. Auf den ersten Blick vor allem Verluste: Sie verlangen eine zweite, große Entscheidung.

Andrea Hensgen wuchs in einem Dorf an der luxemburgischen Grenze auf, studierte in Saarbrücken Geisteswissenschaften und lebt heute in Frankfurt a.?M. Viele ihrer Romane, Erzählungen, Kinder- und Jugendbücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. Die Autorin sucht nach immer wieder neuen Formen, wie der Reichtum der europäischen Kultur fruchtbar gemacht werden könnte, um den heutigen Herausforderungen zu begegnen. Diese Überlegungen rahmen ihre aufmerksame Zuwendung zu ihren Mitmenschen und deren Geschichten.

Am Abend

Nora Budweis

Sie hatte diese Stelle in der unbedachten Hoffnung angetreten, von Eltern, die für ihren Nachwuchs eine Privatschule wählten und dafür ordentlich bezahlten, ein Mindestmaß an Verständnis und Interesse für ihre Kinder erwarten zu dürfen. Wem musste man denn noch erzählen, dass Kinder Liebe brauchten, am besten von ihren Eltern?

Auf der Suche danach strich Sascha wie ein kleiner, verlassener Hund um jeden Erwachsenen herum. Auch wenn die Schulkantine wenig an Geborgenheit einer Küche bot, war es doch der Platz, an dem es drei Mal am Tag Essen gab, und dazu Frau Lackner. Sascha hing an ihrer Schürze, oder klebte an ihrem Kittel, half ihr sogar beim Decken und Abräumen der Tische, obwohl es ausdrücklich verboten war. Die Angestellten der Schule durften den Schülern keine kleinen Dienste oder Aufgaben übertragen.

Wie sollten Saschas Eltern je davon erfahren! Wenn sein Vater ihn abends abholen kam, war die Küche blitzblank geputzt und Frau Lackner längst nach Hause gegangen – obwohl sie oft nach der Arbeit länger blieb, wenn Sascha darum bettelte. Er konnte mittlerweile Namen und Alter von Frau Lackners acht Enkeln aufzählen, sogar die Kosenamen von deren Haustieren nennen. Von ihren Enkeln erzählte Frau Lackner am liebsten.

Falls sie etwas von dieser Freundschaft zwischen ihrem Sohn und der Küchenhilfe geahnt hätten, wäre es Saschas Eltern kein Gedanke gewesen, dass sie sich in die lange Tradition der Reichen ihres Landes einreihten, die seit Jahrhunderten die Kinder der Obhut ihres Personals überließen. Im 19. Jahrhundert hatte es die Sprache verraten, die tiefe Kluft zwischen dem gepflegten Französisch der Eltern und der Derbheit der Ausdrücke, die die Kinder von den Dienern lernten.

Was und wieviel in Saschas Familie miteinander geredet wurde, darüber wollte Nora Budweis lieber keine düsteren Vermutungen anstellen.

Bei der letzten Theateraufführung hatte seine Mutter sich nach vorne zwischen die Lehrer gedrängt, um möglichst dicht vor der Bühne ihr Mobiltelefon über alle Köpfe zu strecken.

Später, während des Wartens, bis die Kinder sich wieder umgezogen hatten, waren sie über die Pläne für die Ferien ins Gespräch gekommen. Dabei hatte Saschas Mutter anklingen lassen, dass Sascha abends sehr müde sei, nach den doch langen und anstrengenden Schultagen.

„Für die Ferien steht deshalb passiver Konsum auf dem Programm, es wird ja viel geboten in der Stadt an Veranstaltungen für Kinder, im Kino und im Theater. Wir haben auch schon Karten für das Musical in der Jahrhunderthalle.“

Heute Abend war Nora Budweis in der Stimmung, dem völlig unvernünftigen Einfall nachzugeben und Saschas Eltern vorzuschlagen, den Jungen am Wochenende zu sich nehmen zu dürfen. Nur ab und zu, und ohne dass einer etwas davon erführe. Garantiert würden die Eltern zustimmen, könnten sie völlig sicher sein, dass es gehe