: Mikita Franko
: Die Lüge
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455013795
: 1
: CHF 9.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein virtuoser Roman über einen Jungen, der in Russland bei einem homosexuellen Paar aufwächst Mikita wird nach dem Tod seiner Mutter von ihrem Bruder adoptiert, er ist fünf Jahre alt. Mit Slawa und dessen Partner Lew genießt er eine fröhliche Kindheit. Aber mit der Einschulung beginnt das Versteckspiel, das Lügen. Wenn Besuch kommt, müssen Fotos weggeräumt, in Aufsätzen müssen Dinge verschwiegen oder erfunden werden, und Mikita schlagen Vorurteile entgegen. Er verliert seinen Frohsinn, wird wütend, aggressiv, depressiv. Erst die Freundschaft mit einem Jungen aus dem Waisenhaus beruhigt ihn. Und dann merkt er, dass er sich zu Jungs hingezogen fühlt. Ausgerechnet! Er beschuldigt sich, zum Beweis für die Propaganda geworden zu sein, die behauptet, gleichgeschlechtliche Paare würden homosexuelle Kinder großziehen. All seine Versuche, sich in Mädchen zu verlieben, scheitern. Es wird noch dauern, bis Mikita Frieden mit sich selbst und seiner Sexualität findet.  Die Lüge ist ein ausgesprochen unterhaltsames Debüt, schnörkellos und am Puls der Zeit.

Mikita Franko wurde 1997 in Pawlodar, Kasachstan, in eine Familie geboren, die seit Generationen Ärzte hervorbringt. Im Alter von drei Jahren hat er lesen gelernt, mit vier schreiben. Seither liest und schreibt er. Franko hat das Medizinstudium schnell an den Nagel gehängt und versteht sich als Akyn, als einen kasachischen Volksdichter, der politische Themen verhandelt. Er sagt von sich selbst, er ertrage keine Langeweile, was ihn zwinge, sich dauernd etwas einfallen zu lassen. Er schreibt über alles, was er sieht. Zurzeit lebt Mikita Franko in Moskau.

Die Kunst, ein guter Mensch zu sein, und viele andere Künste


Seitdem lebten wir zu dritt. Aber das klingt besser, als es tatsächlich war. Ich hatte mit Slawa zu tun, Lew hatte mit Slawa zu tun und Slawa mit uns beiden, während Lew und ich überhaupt nicht miteinander interagierten. Ich hatte nichts gegen Lew, ich wusste einfach nicht, worüber ich mit ihm reden sollte.

Als Grafikdesigner und Künstlernatur schlechthin konnte Slawa mir vieles zeigen und erzählen. Zum Beispiel brachte er mir bei, ein proportionales Gesicht zu zeichnen. Ich gliederte mein schiefes Oval nach allen Regeln der akademischen Zeichenkunst, nur wurde meine Kaulquappe einem Menschen dadurch auch nicht ähnlicher. Trotzdem lobte Slawa meine Zeichnungen enthusiastisch, obwohl klar war, dass es längst nicht nur daran scheiterte, dass das von mir gezeichnete Wesen zwei linke Hände hatte wie ich.

Außerdem hatte er ein altes Grammofon und einen Haufen Platten aus den Sechzigern bis Achtzigern. Er legte mir die Beatles, Queen, Led Zeppelin, David Bowie und seine heiß geliebte Montserrat Caballé auf. Die gefiel mir gar nicht, und ich nörgelte: »Leg die Platte nicht auf, die jault da so.«

»Na, werd hier mal nicht blasphemisch«, sagte Slawa.

Ich verstand zwar nicht, was ich nicht werden sollte, aber spürte, dass ich etwas Falsches gesagt hatte.

Slawa fragte: »Welche Songs magst du am liebsten?«

Ich zeigte auf die Queen-Platte, und mein Onkel grinste breit.

»Gleich wirst du auch Montserrat mögen, mein Freund.«

Er kramte eine Platte hervor, die er mir noch nie vorgespielt hatte. Barcelona stand darauf. Das erfuhr ich aber erst später, als ich Englisch lesen lernte, mit fünf konnte ich sie nur unverständig anstarren.

Der Anfang des Liedes klang weihnachtlich, aber bald wurde die einfache Musik erhaben, dann wieder leise. Und plötzlich: eine klare Männerstimme, die ich schon von anderen Schallplatten kannte: Queen. Erst danach erklang die Stimme dieser Frau, die mir auf einmal gar nicht mehr nervig vorkam. Ich hielt die Luft an, aber das war nur die Spitze des Eisbergs, nur die ersten schwachen Regungen von Gefühlen, die mir bis dahin völlig unbekannt gewesen waren. Die Explosion in meiner Brust kam etwas später, als ihre Stimmen sich vereinten. Ich verstand nicht, was mit mir passierte. Warum zitterte ich von einem Lied?

Ich hob den Blick zu Slawa.

»Was ist das?«

»Kunst.«

Von Slawa lernte ich, dass Kunst unendlich viele Formen haben kann. Und dass man nicht nur wegen Musik zittern konnte. Man konnte vor Bildern erstarren, bei Filmen weinen, bei Musicals lachen. Wir gingen zusammen in Museen, ins Theater, in die Oper, ins Ballett. Und überall wurden wir schief angeguckt.

Zum einen, weil die anderen Besucher (vor allem die im Theater) fanden, dass kleine Kinder in Vorstellungen wieHühnchen Rjaba gehörten und ich ein Ballett wieDon Quichote nicht verstehen würde. Außerdem befürchteten sie, dass ich in den heiligen Minuten, wenn sie gerade in der Kunst aufgingen, Krach machen würde oder aufs Klo müsste. Aber ich hielt alle drei Akte durch, ohne einen Mucks.

Zum anderen wegen Slawa. Man liegt falsch, wenn man annimmt, dass Slawa bei unseren Veranstaltungen der Hochkultur auch hochkultiviert aussah. Jeder einzelnen ging eine Diskussion mit Lew voraus.

»Kannst du nicht wenigstens irgendwas ohne Löcher anziehen?«, fragte Lew.

»Was macht das für einen Unterschied?«

»Wir gehen ins Theater.«

»Darin sehe ich noch keinen Grund, mich umzuziehen.«

Sie stritten, bis die Zeit knapp wurde. Le