: Ece Temelkuran
: Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455005332
: 1
: CHF 9.90
:
: Gesellschaft
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Ein essenzielles Buch.' Margaret Atwood auf Twitter Eine scharfsinnige und weitsichtige Analyse der weltweiten Entdemokratisierung und ein engagierter Aufruf zur Verteidigung der Demokratie. Ob Erdo?ans Türkei, die Brexit-Entscheidung oder eine weitere europäische Wahl, die Rechtspopulisten neue Rekordwerte eingebracht hat: Populismus ist zur globalen Krankheit geworden. Mit seismographischem Gespür fahndet Ece Temelkuran nach seinen Ursachen und macht sieben wiederkehrende Schritte aus, zu denen Möchtegern-Diktatoren in aller Welt greifen, um an die Macht zu gelangen. Nachdrücklich schärft sie uns den Blick und lässt uns antidemokratische Tendenzen beizeiten erkennen. Ihr Buch ist eine eindringliche Aufforderung, ins Gespräch zu kommen über das, was notwendig ist, wenn wir weiterhin friedlich zusammenleben wollen.

Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen. Ihr Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann wurde in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt. Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt die Sachbücher Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur (2019), Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst (2015) und der Roman Stumme Schwäne (2017).

EinleitungWie kann ich Ihnen helfen?


Die Düsenjäger schneiden den dunklen Himmel in riesige geometrische Stücke, so als wäre die Luft eine feste Masse. Es ist der15. Juli2016, die Nacht des Putschversuchs in der Türkei. Ich versuche, die zitternden Fensterscheiben mit Kissen zu schützen. Offenbar wurde gerade die Brücke bombardiert, aber ich sehe kein Feuer. »Ist es jetzt so weit?«, frage ich mich. »Findet heute Nacht der Reichstagsbrand statt, der alles zerstört, was von der türkischen Demokratie und meinem Land übrig ist?«

Das Fernsehen zeigt, wie mehrere Dutzend Soldaten die Bosporusbrücke sperren und die verdutzten Zivilisten anblaffen: »Geht nach Hause! Das ist ein Militärputsch!«

Trotz ihrer riesigen Gewehre haben einige Soldaten schlicht Angst, und alle wirken hilflos. Im Fernsehen wird von einer Machtergreifung durch das Militär gesprochen, doch es ist kein Staatsstreich, wie wir ihn gewohnt sind. Ein Putsch setzt so gut wie immer ein Pokerface auf; keine Hektik, kein Verhandeln und bestimmt keine Bedenken, was den Einsatz schwerer Waffen betrifft. In den sozialen Medien wird die absurde Situation bereits sarkastisch kommentiert. Dieser Art von Humor geht es nicht unbedingt um den Lacherfolg; es ist eher ein Wettstreit in bitterer Ironie, was jedoch nur die Teilnehmer selbst normal finden. Die meisten Witze verhandeln die Möglichkeit, das Ganze könnte inszeniert sein, um statt des parlamentarischen Systems die Installierung jenes Präsidialsystems zu legitimieren, das Präsident Recep Tayyip Erdoğan schon seit langem fordert und das ihm noch mehr Macht verleihen würde, als er, der faktische Alleinherrscher des Landes, bereits hat.

Als der Himmel über Istanbul und Ankara kurz darauf voller Kampfjets ist, vergeht den Leuten ihr schwarzer Humor, und wir lernen die Sprache des Krieges in Echtzeit. Was ich für eine Bombe gehalten habe, war ein »Überschallknall«, das explosionsartige Geräusch, das entsteht, wenn Düsenflieger die Schallmauer durchbrechen – Fachausdruck dafür, dass die Luft in riesige Teile zerbirst und als Angst auf uns niederprasselt, als die Angst, wir könnten noch vor Sonnenaufgang unser Land verlieren.

Mittlerweile versuchen die Menschen in der Hauptstadt Ankara zu unterscheiden, wann sie nur einen Überschallknall hören und wann die echten Bomben, die das Parlament und die Geheimdienstzentrale treffen. Absurde Fernsehmeldungen legen sich wie ein Schleier auf die Katastrophe vor unseren Augen. Live wird gezeigt, wie Militärpolizisten auf der Suche nach dem längst in Vergessenheit geratenen Luftschutzkeller um das Parlamentsgebäude herumrennen und, als er endlich gefunden ist, keiner von ihnen weiß, wo sich der Schlüssel befindet, während draußen auf den Straßen Männer im Schlafanzug mit Kippe im Mund gegen Panzer treten und zu den Düsenjägern hinaufbrüllen.

Vielen fällt auf, wie ungewöhnlich es ist, dass sich die Fernsehmeldungen überschlagen. Noch jeder Staatsstreich der jüngeren türkischen Geschichte begann damit, dass die Armee Politiker in Gewahrsam nahm und die Informationsquellen dichtmachte – und zwar in den frühen Morgenstunden, nicht zur Hauptsendezeit. Bei diesem vom Fernsehen akribisch erfassten Staatsstreich dagegen appellieren die ganze Nacht hindurch auf allen Kanälen Regierungsvertreter an das Volk, auf die Straße zu gehen und sich dem versuchten Militärputsch zu widersetzen. Und obwohl das Internet sonst immer langsamer wird, sobald sich die Regierung in einer heiklen Situation befindet, ist es jetzt plötzlich so schnell wie noch nie. Doch die Hektik und Intensität der nächtlichen Ereignis