: Ulrich Wickert
: Vom Glück, Franzose zu sein
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455850956
: 1
: CHF 7.20
:
: Europa
: German
: 238
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Köche, Agenten und Mätressen sind die Hauptfiguren der unglaublichen Geschichten aus Frankreich, von denen Ulrich Wickert mit Charme und Ironie erzählt. Szenen aus einem Land, das wir zu kennen glaubten ... Wer kennt schon das Land, in dem handgepflückte Kartoffeln zum Nachtisch serviert werden oder der Name eines Käses vom Zinsbetrug herrührt? Frankreich - wir meinen es zu kennen und haben doch oft nur die gängigen Bilder und Vorstellungen im Kopf. Ulrich Wickert, der kluge und charmante Causeur, lädt in seinen 'unglaublichen Geschichten' dazu ein, (sein) Frankreich mit neuen Augen zu sehen. Auf diesem Streifzug erfahren wir Erstaunliches: Der Innenminister läßt den Staatspräsidenten durch Agenten der politischen Polizei beschatten; dieser wiederum ordnet an, schöne Schauspielerinnen, Journalisten und Schriftsteller abzuhören. Die Chauffeure der Minister müssen dem Innenminister melden, wenn sich ihr Chef zum Mätressenbesuch aufmacht. Und um sich das teure Leben mit einer Geliebten leisten zu können, erschleichen sich Politiker Scheinverträge mit Staatsunternehmen ... Es sind unerhörte Episoden, die Ulrich Wickert aus Frankreichs Geschichte und Gegenwart zu erzählen weiß. Er spannt einen weiten historischen Bogen und läßt es sich nicht nehmen, eine Fülle von komischen wie nachdenklich stimmenden Erfahrungen auszubreiten. Mit dem ihm eigenen Witz und mit pointierter Ironie wägt Wickert ab, was die Franzosen so liebenswert macht und weswegen man ihrer bisweilen überdrüssig ist. 'Vom Glück, Franzose zu sein' - lauter wahre Begebenheiten, die so unglaublich klingen, als handelten sie von einem unbekannten Land: von Frankreich.

Ulrich Wickert, geboren 1942, ist einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands. Er war als Korrespondent in den USA und Frankreich tätig, außerdem langjähriger Anchorman der Tagesthemen. Er lebt in Hamburg und Südfrankreich, wo er neben Kriminalromanen auch politische Sachbücher schreibt. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen unter anderem die Bestseller Vom Glück, Franzose zu sein, Gauner muss man Gauner nennen und Der Ehrliche ist der Dumme. In seiner erfolgreichen Krimiserie um den Richter Jacques Ricou erschien zuletzt Das Schloss in der Normandie (Hoffmann und Campe 2015). Seit ihrer Gründung ist Wickert Secrétaire perpétuel der Académie de Berlin, die den kulturellen Austausch zwischen Frankreich und Deutschland fördert.

Die liebenswerten Franzosen


Es gibt Augenblicke, in denen ein normaler Mensch zu verzweifeln beginnt, nur weil eine technische Kleinigkeit nicht funktioniert, die ein Fachmann mit einem Handgriff und vielleicht einem Ersatzteil repariert. Doch leider sind Könner meist dann nicht zur Hand, wenn man sie braucht. Denn inzwischen hat sichüberall in der Welt eingebürgert, daß sich Experten nach strengen Arbeitszeiten richten, und die werden immer kürzer. In Ländern wie denUSA oder Deutschland erreicht man – besonders an einem Tag vor dem Wochenende oder gar einem Feiertag – schon ab mittags nur noch den automatischen Anrufbeantworter, der erbarmungslos auf dieÖffnungszeit in drei Tagen hinweist. In Frankreich gilt inzwischen die35-Stunden-Woche, aber glücklicherweise gibt es unter den Franzosen Menschen, die sich von solch modernen Regeln nicht einschüchtern lassen.

Der alte schwarze Uno sprang schon seit langem schlecht an, denn er wurde wochenlang nicht bewegt. Man hätte sich in jene Zeit zurückwünschen können, in der eine Kurbel ausgeholfen hätte. Doch da die Straße vor dem Haus einen steilen Hügel hinabführt, ruckelte der Motor, nachdem die Karre einige wenige Meter gerollt war, wenn man nicht vergaß, die Zündung einzuschalten und den zweiten Gang einzulegen. Dann tat das Benzin, was man von ihm erwartet, es zündete, trieb die Kolben an, und schon schnurrte der Motor, als sei nichts gewesen. Und nach wenigen Kilometern Fahrt war die Batterie wieder so stark aufgeladen, daß eine kurze Umdrehung des Schlüssels für die Zündung ausreichte.

Aber heute rührte sich gar nichts mehr. Gérard, der freundliche Nachbar, der einen Blumenladen in Grasse, hier unten an der Côte d’Azur, betreibt, kam herüber und schaute in den Motorraum, drehte die Stutzen an der Batterie auf, und sein Gesicht erhellte sich:»Ah, da fehlt Wasser.« Als geübter Bastler wußte er, was zu tun war. Gérard rollte den grünen Gartenschlauch neben den orangefarben blühenden Oleanderbüschen auf,öffnete den Wasserhahn und füllte mit Begeisterung und Kennernicken die Batterie auf, obwohl Adrienne zweifelnd fragte:

»Kann man dazu denn Leitungswasser nehmen?«

»Versuchen Sie’s jetzt mal!«

Tatsächlich sprang der leichte, kleine Wagen an, nachdem er nur zwanzig Meter gerollt war und Geschwindigkeit aufgenommen hatte. So konnte Adrienne hinunter ins Dorf fahren und in der abschüssigen Einfahrt von Mireille parken. Ihre beiden kleinen Kinder kletterten aus den Sitzen und sprangen in den Garten.

Währenddessen machte sich das Wasser aus dem Gartenschlauch auf den Weg zu allen Zellen der Batterie und zerstörte heimtückisch, was es – nach Gérards Vorstellung – heilen sollte. So sprang der Wagenüberhaupt nicht mehr an. Der Anlasser drehte sich nicht einmal mit jenem bekannten müden Seufzen aus der Tiefe der Motorhaube, das ein Malheur ausdrückt. Gott sei Dank lag am Ortsausgang eine Fiat-Werkstatt.

Der Patron selbst kam an den Apparat, schließlich war es schon kurz nach sechs.

»Madame«, sagte er freundlich zu Adrienne,»morgen istle quinze août. (Mariä Himmelfahrt. Und an diesem Tag, so weiß jeder Franzose, wird kein Handschlag getan.) Melden Sie sichübermorgen wieder.«

Da schnappte sich die energische Mireille den Hörer, und es sprudelte nur so aus ihr heraus, und zwar mit einer Geschwindigkeit, wie sie nur Franzosen beherrschen:»Hören Sie,Monsieur, c’est l’horreur! – Hier herrscht schlechthin das Grauen. Die junge Frau sitzt bei mir mit zwei weinenden Kindern. Und der Mann wartet darauf, abgeholt zu werden. Es hat schon richtig geknallt zwischen den beiden. Solch einen Ehekrach haben selbst Sie noch nicht erlebt. Sie können sich das gar nicht vorstellen,c’est l’horreur, Monsieur …«

Was in dem Patron vorgegangen sein mag, bleibt einem Fremden verborgen. Aber er reagierte auf jene einmalige Art und Weise, für die man Franzosen liebt: Zwanzig Minuten später startete der Motor mit einer neuen Batterie. Und weil er ja der Patron war, berechnete er nur den Preis für die Batterie, die Arbeitszeit dagegen …»Madame, c’était unplaisir … – Es war mir ein Vergnügen.«

Und auch als am Gründonnerstag die Heizung ausfiel, kam der Monteur noch abends um acht, stocherte mit einem Schraubenzieher so lange im Brenner herum, bis der wieder ansprang. Und auf den Dank antwortete er:»Madame, sonst frieren doch ihre Kinder!« So können Leute miteinander umgehen. Und weil es sich hier um Franzosen dreht, paßt, um den Geist zu beschreiben, der diese kleine Freundlichkeit beseelte, vielleicht das altmodische Wort Galanterie. Gott, sagt der Schwärmer, sind die Leute galant, die Frankreich bevölkern.

Frankreich lieben heißt für etwas schwärmen, das so zu sein scheint wie das Glück, von dem man träumt.

 

Woanders ist es immer besser. Das wissen wir alle. Und das gilt auch für Frankreich. Doch nehmen wir als Beispiel, um dies zu begründen, nun nicht einen derüblichen Frankophilen, die schon mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk oderüber eine Städte-Partnerschaft Bande zu den Franzosen geknüpft haben; schieben wir den Romanisten, den Intellektuellen, den Anhänger Robespierres oder Sartres beiseite und wenden wir uns einer jungen Frau zu, die es in der deutschen Politik noch weit bringen will. Sie wurde, gerade weil sie erst28 Jahre alt war und damit die Verjüngung der deutschen Politik darstellen sollte, als Kandidatin für die Bundestagswahl im September1998 aufgestellt: Schließlich verkörperte Andrea Nahles als Vorsitzende der Jungsozialisten die Zukunft derSPD. Sie ist die Essenz eines gewissen deutschen Denkens.

Während des Wahlkampfes1998 reiste sie durch die Bundesrepublik und kündete, wie es junge Leute tun sollen, von den Wundern einer besseren Politik – und eines besseren Lebens. Der Mensch solle nur noch halb soviel arbeiten und damit mehr Zeit für anderes haben.»In anderen Ländern, etwa in Frankreich«, schwärmte sie, klappe das prächtig.Überhaupt, in Frankreich, da habe man noch Zeit und Sinn für»andere Lebensentwürfe«.

Andrea Nahles behauptet zwei Dinge, von denen zumindest die erste Aussage, die Franzosen arbeiteten weniger als die Deutschen, nicht stimmt. Im Gegenteil, Franzosen arbeiten – so hält es die Statistik fest – sehr viel mehr Stunden in der Woche. Da schließen die Büros freitags nicht um zwei Uhr nachmittags, sondern um sechs oder sieben abends. Dieselbe Statistik ver