Es geschah am Donnerstag, den 12. Juni 2008. Ich hatte den Vormittag zu Hause verbracht und im Wohnzimmer gelesen. Draußen war es heiß, aber es regnete: Seit drei Tagen ging ein lauwarmer Sprühregen auf New York nieder. Gegen dreizehn Uhr erhielt ich einen Anruf. Ich hob das Telefon ab, und zunächst kam es mir so vor, als wäre niemand am anderen Ende der Leitung. Dann vernahm ich ein unterdrücktes Schluchzen.
»Hallo? Hallo? Wer ist da?«, fragte ich.
»Sie … Sie ist tot.«
Obwohl seine Stimme kaum zu hören war, erkannte ich ihn sofort.
»Harry? Sind Sie das, Harry?«
»Sie ist tot, Marcus.«
»Wer ist tot?«
»Nola.«
»Was ist passiert?«
»Sie ist tot, und es ist alles meine Schuld. Marcus … Was habe ich nur getan? Verdammt, was habe ich getan?«
Er weinte.
»Harry, was reden Sie da? Was wollen Sie damit sagen?«
Er legte auf. Sofort rief ich ihn zurück, aber er nahm nicht ab. Auch auf seinem Handy erreichte ich ihn nicht. Ich versuchte es noch ein paarmal und hinterließ auf seinem Anrufbeantworter mehrere Nachrichten, doch ich hörte nichts mehr von ihm. Ich machte mir große Sorgen. Da konnte ich noch nicht wissen, dass Harry mich vom Hauptquartier der State Police in Concord angerufen hatte. Ich hatte keine Ahnung, was vor sich ging, bis gegen sechzehn Uhr Douglas anrief. »Du meine Güte, Marc, hast du es schon mitgekriegt?«, schrie er heiser.
»Mitgekriegt? Was?«
»Schalt den Fernseher an, verdammt! Es geht um Quebert! Harry Quebert!«
»Um Quebert? Was ist mit ihm?«
»Mach den Fernseher an, verdammt noch mal!«
Schnell schaltete ich einen Nachrichtensender ein. Verdutzt erblickte ich auf dem Bildschirm Fotos von Harrys Haus in Goose Cove und hörte den Sprecher sagen:Hier, in seinem Haus in Aurora in New Hampshire, wurde heute der Schriftsteller Harry Quebert verhaftet, nachdem die Polizei auf seinem Grundstück eine Leiche ausgegraben hat. Ersten Ermittlungen zufolge könnte es sich um die sterblichen Überreste von Nola Kellergan handeln, einem Mädchen aus der Gegend, das im August 1975 im Alter von fünfzehn Jahren von zu Hause verschwunden war. Man hatte nie herausgefunden, was ihr zugestoßen war … Plötzlich drehte sich um mich herum alles, und ich ließ mich benommen auf die Couch fallen. Ich verstand überhaupt nichts mehr: weder den Bericht im Fernsehen noch Douglas, der am anderen Ende der Leitung ins Telefon bellte: »Marcus? Bist du noch dran? Hallo? Er hat ein junges Mädchen umgebracht! Er hat ein junges Mädchen umgebracht!« In meinem Kopf ging es drunter und drüber, es war wie in einem bösen Traum.
Also erfuhr ich zeitgleich mit dem Rest des schreckensstarren Amerikas, was sich einige Stunden zuvor abgespielt hatte: Am frühen Morgen war eine von Harry bestellte Gartenbaufirma in Goose Cove eingetroffen, um in der Nähe des Hauses große Hortensien einzupflanzen. Beim Graben waren die Gärtner in einem Meter Tiefe auf Menschenknochen gestoßen und hatten unverzüglich die Polizei verständigt. Kurz darauf hatte man ein vollständiges Skelett freigelegt und Harry verhaftet.
Im Fernsehen jagte ein Bericht den anderen. Abwechselnd gab es Liveübertragungen vom Schauplatz in Aurora und aus Concord, der sechzig Meilen nordwestlich gelegenen Hauptstadt New Hampshires, wo Harry sich derzeit in den Räumen der Kriminalpolizei in Haft befand. Scharen von Journalisten hatten sich schnellstens vor Ort begeben, um die Ermittlungen aus nächster Nähe zu verfolgen. Offenbar gab ein bei der Leiche aufgefundenes Indiz ernsthaften Anlass zu der Vermutung, dass es sich um die Überreste von Nola Kellergan handelte. Ein leitender Polizeibeamter hatte bereits verlauten lassen, dass, sollte sich diese Information bestätigen, Harry Quebert überdies des Mordes an