: Christine Brand
: Das Geheimnis der Söhne Ein Fall für Milla Nova
: Atlantis Literatur
: 9783715275178
: Ein Fall für Milla Nova
: 1
: CHF 14.40
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die toughe TV-Journalistin Milla Nova bringt nichts aus der Fassung. Doch als sie für eine neue Reportage im ersten Seniorengefängnis der Schweiz auf den Serienmörder Valentin Mannhart trifft, wird selbst Milla mulmig zumute. Vier Menschen soll der mittlerweile 83-Jährige ermordet haben. Doch nun, fast vierzig Jahre später, kann er sich an nichts erinnern. Oder will er sich nicht erinnern? Millas Neugier ist geweckt. Auch sie zweifelt daran, dass der schmächtige Mann zu solchen Gräueltaten fähig ist, zumal die vier Mordopfer nichts gemeinsam zu haben scheinen. Milla beginnt zu recherchieren und taucht tief ein in die Geschichte einer zerrütteten Familie - und in die Schweizer Neonaziszene. Ihre Nachforschungen bleiben nicht unentdeckt, und schon bald gerät Milla selbst ins Fadenkreuz.

Christine Brand, geboren und aufgewachsen im Emmental, ist Autorin und freie Journalistin. Sie arbeitete bei der NZZ am Sonntag, beim Schweizer Fernsehen SRF und bei der Berner Zeitung Der Bund, wo sie unter anderem Gerichtsreportagen verfasste und Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie erhielt. Christine Brand hat neun Kriminalromane, zwei Bücher mit wahren Kriminalgeschichten und einen Märchenband publiziert. Zudem erschienen zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien. Christine Brand lebt heute in Zürich, ist aber öfter auf Reisen als zu Hause: Mit 44 entschied sie, ihren Traumjob und die Wohnung zu kündigen und sich von nahezu allem Besitz zu trennen. Seitdem schreibt sie am liebsten in einem Strandcafé auf Sansibar mit Blick auf das Meer. Im Atlantis Verlag erschienen zwei Kriminalromane mit TV-Journalistin Milla Nova, »Kalte Seelen« und »Stiller Hass«, sowie im Kampa Verlag ihr True-Crime-Roman »Bis er gesteht«, der Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste erreichte.

1


2010

Sie stecken fest, im Niemandsland. Das rechte Hinterrad des weißen Kastenwagens, auf dessen Seiten das rote Signet des staatlichen Fernsehsenders prangt, sucht vergeblich nach festem Untergrund und frisst sich noch tiefer in den Schnee. Milla Nova blickt hinaus, sieht nichts als Nebel und matschige Schneeflocken, die an die Frontscheibe klatschen wie Vogeldreck. Sie weiß genau, was jetzt kommen wird, und verdreht die Augen, bevor er es ausspricht.

»Du wirst uns anschieben müssen«, sagt Ivan Ivanovic, der nicht wirklich Ivan heißt, den aber alle Ivan nennen.

Das, denkt Milla, ist mal wieder eine dieser Situationen. In denen sie ihren Job verflucht und sich fragt, warum sie sich das immer wieder antut.

»Ich hab doch gleich gesagt, es ist keine gute Idee, auf diesem Feldweg zu wenden!« Milla spricht es aus, weil es ausgesprochen werden muss. Sie kann nicht verstehen, weshalb Ivan der unpassend erotisch klingenden Frauenstimme, die ihm aus dem Navigationsgerät heraus zugeraunt hat, er solle bitte wenden, folgt wie ein treudoofer Hund seinem autoritären Frauchen. Dabei war sich Milla sicher, dass sie ursprünglich auf der richtigen Straße unterwegs gewesen sind. Nur: Auf sie hört der Mann ja nicht. Ivan zuckt bloß mit den Schultern.

»Du wirst uns anschieben müssen«, wiederholt er, als hätte jemand die Replay-Taste gedrückt.

Milla schnaubt und wirft ihm einen flehenden Blick zu, doch er kennt kein Erbarmen. Also steigt sie unwillig aus dem Wagen, hinaus ins kalte Nass, das ihre Frisur verunstalten wird. Schon etwas feuchte Luft genügt, dass sich ihr schwarzes Haar zu Zapfenlocken zusammenzieht, die ihr dann wirr in alle Richtungen vom Kopf stehen. Immerhin hat Ivan Fußmatten dabei, die sie unters Rad schieben kann. Und damit, kombiniert mit einem schweißtreibenden Kraftaufwand ihrerseits, schaffen sie es tatsächlich, das Gefährt rasch wieder in Gang zu kriegen. Nicht ohne dass Milla dabei ordentlich nass wird.

»Wir müssten schon längst dort sein«, sagt sie, als sie keuchend wieder auf dem Beifahrerplatz sitzt. Die Hektik lässt ihre Stimme höher klingen. Milla kann es nicht ausstehen, zu spät zu kommen. Und noch immer haben weder Ivan noch sie eine Ahnung, wo sie sich genau befinden.

»Weit kann’s nicht mehr sein.«

Ivan bearbeitet erneut hoch konzentriert das Navigationsgerät, das sie erst in diese missliche Lage gebracht hat und dem er zu Millas Unverständnis noch immer sein Vertrauen schenkt. Sie würde sich nie von dieser Frauenstimme in die Irre führen lassen, geschweige denn ihr eine zweite Chance geben. Milla würde ihr ein Sprechverbot erteilen. Sie lässt sich nicht gern herumkommandieren.

»Vergiss es doch einfach«, fährt sie Ivan genervt an,»dieses Ding wird die Adresse nicht ausspucken. Ein Gefängnis existiert nicht in seinem Programm.«

Sie durchwühlt das Handschuhfach und findet eine vergilbte Landkarte, die ihr aber ebenso wenig weiterhilft. Wer Glück hat, findet darauf nebst den Autobahnen gerade noch die wichtigsten Hauptstraßen. Nebenstraßen sind praktisch inexistent oder entsprechende Angaben nicht mehr aktuell.

»Hast du die Nummer des Direktors?«, fragt Ivan.

Milla setzt ihre schuldbewusste Miene auf.

»Der Zettel mit der Nummer liegt in meinem Büro auf dem Schreibtisch …«

»Super. Dort liegt er sicher bequem.«

Ivan sagt’s mit einem Lachen. Zu gut kennt er Milla und ihren Hang zum Chaos, als dass er sich darüber wundern oderärgern würde. Seit bald fünf Jahren bilden sie ein Team: Milla Nova als die rasende Reporterin, er als ihr Kameramann. Immer wieder haben sie bei ihren gemeinsamen Dreharbeiten die eine oder andere Schwierigkeit zuüberwinden. Nicht selten, weil Milla alles andere als vorbildlich auf die Einsätze vorbereitet ist. Oft aber auch, weil sie sich die verrücktesten Themen aussucht. Heute jedoch rechnet Ivan mit einem unkomplizierten Dreh ohne unliebsameÜberraschungen. Wobei man bei Milla nie wissen kann.

Während Ivan Ivanovic, der aussieht wie ein durchschnittlich-biederer Sportmoderator und somit eher vor als hinter eine Kamera passen würde, für verschiedene Sendungen unterwegs ist, arbeitet Milla Nova fix beim MagazinWochenthemen. Sie gilt als eine bissige, unnachgiebige, je nach Standpunkt auch lästige Journalistin, was man ihr auf den ersten Blick nicht ansieht. Mit ihrer schlanken Figur, ihrer nicht geradeüberragenden Körpergröße – sie fühlt sich um mindestens zehn Zentimeter zu klein geraten –, mit ihrem ungebändigten schwarzen Wuschelkopf und ihren freundlichen grünen Augen sieht sie aus wie eine Frau, die man beschützen will. Und nicht wie eine, vor der man sich in Acht nehmen muss. Wobei Letzteres zutrifft und sie Ersteres als Beleidigung auffassen würde. Sie fühlt sich schon bevormundet, wenn ihr jemand in die Jacke helfen will. Milla findet sich auch nicht schlank, sondern viel zu dünn. Ihre Beine kommen ihr vor wie Streichhölzer, Rundungen gehen ihr völlig ab, undüber ihren kleinen Busen pflegt sie mitunter die bissigsten Witze zu reißen. Schon als Kind war sie stets die Kleinste und Dünnste gewesen.»Minimill«, so hatten sie einige genannt. Damals, als sie noch davon träumte, Tierärztin zu werden. An Tagen wie diesem bereut sie noch immer, dass sie es nicht geworden ist. Dass sie nach der Matura studierunwillig für einen Hungerlohn beim neu gegründeten Berner Lokal-TV-Sender anheuerte und irgendwie in diesem Job hängen geblieben ist. Um schließlich dort zu landen, wo man in diesem Geschäft der bewegten Bilder immer landet: beim Schweizer Farbfernsehen im Zürcher Leutschenbach. Jetzt ist Milla Nova dreiunddreißig und irrt in Ausübung dieses Jobs, mit dem sie eine aufreibende Hassliebe ver