: Claudia Romes
: Die Fabrik der süßen Dinge - Helenes Hoffnung Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841231987
: Die Süßwaren-Saga
: 1
: CHF 8.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Liebe, Leidenschaft und Lakritz.

Köln, 1927: Helene von Ratschek sprüht vor neuen Ideen für die Süßwarenmanufaktur ihrer Familie. Ob Lakritz, Konfekt oder Weingummi, ihre Kreationen sind so köstlich wie originell. Doch als ihr Vater seine Nachfolge verkündet, gewährt er seinen Söhnen den Vortritt, während Helene einen Geschäftspartner heiraten soll. Helene weiß jedoch, was die Ehe aus Frauen macht: Schatten ihrer Männer, ohne die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben. Kurzentschlossen heuert sie unter falschem Namen bei der Konkurrenz in Hamburg an und begegnet dort dem charmanten Fabrikantensohn Frederik ... 

Eine junge Frau, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt und allen Widerständen zum Trotz ihre Suche nach Liebe und dem perfekten Rezept nicht aufgibt.



Claudia Romes wurde 1984 als Kind eines belgischen Malers in Bonn geboren. Mit neun Jahren begann sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, und fasste den Entschluss, eines Tages Schriftstellerin zu werden. Nach einigen beruflichen Umwegen widmete sie sich ganz dem Schreiben und lebt heute ihren Traum. Die Autorin wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Vulkaneifel. Im Aufbau Taschenbuch sind bereits ihre Romane »Das Geheimnis der Hyazinthen« und »Beethovens Geliebte« erschienen.

Kapitel 1


Köln, Frühling 1927

Schwarzer Rauch stieg aus den Schornsteinen des Hauptwerks und schlängelte sich in einen fast durchgehend blauen Himmel hinauf. Helene kletterte aus dem Wagen, der sie von der elterlichen Villa zum Deutzer Firmengelände gebracht hatte, und sog den herben Geruch von erhitztem Rohlakritz ein. Mühelos überlagerte er den Duft der Fliederbüsche, die mit prächtig weißen Blüten vor dem Eingang der Manufaktur von Ratschek aufwarteten. Von Montag bis Freitag dominierten hier Lakritz- und Fruchtsaftdämpfe die Umgebung. Als eine von wenigen Fabriken schmolzen die von Ratscheks sogar die Süßholzspäne noch selbst ein, bevor sie weiterverarbeitet wurden. Stangen, Hustenbonbons, Konfekt und Fruchtgummi in sämtlichen Variationen: Das Kerngeschäft des Familienbetriebs blieb seit Jahren unverändert und Helene hatte den Produktionsplan genau im Kopf. Heute waren Rauten und Pastillen an der Reihe, dachte sie, als sie die rote Fassade des Backsteingebäudes hinaufschaute.

»Wollen Sie gegen Mittag wieder abgeholt werden?«, erkundigte sich der Fahrer.

»Ich bleibe. Danke.« Helene wedelte flink mit einer Hand und der Wagen fuhr davon. Kurz schaute sie ihm nach, wie er ruckelnd um die Ecke bog. Zwei dieser neuartigen Automobile hatte ihr ältester Bruder Alfred für Firmenfahrten angeschafft. Ihr Vater hatte es bis zuletzt vorgezogen, die Kutsche zu nehmen. Theodor von Ratschek hielt am Altbewährten fest. Knatternde Motoren und selbstdrehende Räder waren ihm nicht geheuer.

Helene umklammerte fest den Griff ihrer Aktentasche mit einer Hand, während sie mit der anderen die schwere Tür der Produktionshalle aufschob. Sofort schlug ihr der scharfe Geruch von Salmiak entgegen.

»Morgen, Fräulein von Ratschek.« Die ungewöhnlich tiefe Stimme der zweiten Vorarbeiterin Helma Berens durchdrang den Lärm der dampfbetriebenen Walze, die diese beaufsichtigte.

»Guten Morgen«, antwortete Helene freundlich. »Wie sind wir heute in der Zeit?«

»Auf die Minute genau.« Helma sah vom Förderband mit den präzise ausgestochenen Rauten auf, dann fasste sie sich an den Schirm ihrer grauen Schiebermütze. »Läuft wie ’ne Eins das Ding.«

»Sehr gut.« Beeindruckt betrachtete Helene die neue Maschine, die ihr Bruder Henri mitkonstruiert hatte. Inzwischen war auch ihr Vater von dieser Modernisierung überzeugt, für die sie sich eingesetzt hatte. Mithilfe der musterbedruckten Walzen konnten sie doppelt so viel Lakritze an einem Tag produzieren. Ein echter Gewinn.

»Wollen Sie probieren?«, fragte Helma und bot zwei Rauten in ihrer ausgestreckten flachen Hand an.

Nickend nahm sich Helene vom Lakritz und schob es sich in den Mund. Die andere Raute verschwand zwischen Helmas Lippen. Das Lakritz war noch warm und weich, es klebte wie Gummi an Helenes Gaumen. Seine Festigkeit bekam es erst, nachdem es abgekühlt war, was bis zu fünf Tage dauerte.

»Ist jut, ne?« Helma kaute mit offenem Mund, dabei gab sie einen Blick auf die schwarze Masse frei, die an ihren Vorderzähnen haftete. Helene musste sich ein Grinsen verkneifen. Angestrengt kaute auch sie und nickte. Der bittere Geschmack von Salmiak brannte ihr auf der Zunge, doch dann entfaltete sich das würzige Aroma. Aus salzig wurde süß. Es war dieses Zusammenspiel vollkommen gegensätzlicher Geschmacksrichtungen, welches sie so faszinierte.

Zufrieden machte sie ihre übliche Morgenrunde durch die Produktionsstätte. Das Rattern der Walze war Musik in Helenes Ohren. Unwillkürlich schlossen sich ihre Finger fester um ihre Aktentasche. Die Rezepte, die sich darin befanden, ließen ihr Herz schneller schlagen. Vielleicht würden es schon bald ihre Süßigkeiten sein, die von Henris Maschine geprägt wurden. Sie beschleunigte ihren Gang durch die Halle, nickte den Arbeitern freundlich zu, die Mehl und Zuckersirup in hohen, dampfenden Kesseln verrührten, bis der eingedickte Süßholzsaft die richtige Konsistenz besaß. Etwas weiter hinten wurde die leimige Masse von einem Dutzend Frauen in Streifen geschnitten und anschließend zu Schnecken gedreht. Als Helene noch ein Kind gewesen war, hatte sie oft mit ihnen am Band gestanden. Bei Butterkuchen und Kakao hatte sie mit den Fabrikarbeiterinnen die Pausen verbracht und deren unverfälschter Kölner Mundart gelauscht. Dabei hatte Helene Wörter wie Schwaadlappe und Kläävbotze aufgeschnappt. Sie schlichen sich in ihr Vokabular ein und ihr Vater untersagte ihr den näheren Kontakt zum Fabrikpersonal. Helene hielt jedoch an ihnen fest – wenn auch heimlich.

»Sind sie da drin?« Friedas herzliche Stimme riss sie aus ihren Kindheitserinnerungen und sie blickte ins mütterliche Gesicht der ersten Vorarbeiterin.

»Sind sie«, antwortete Helene schmunzelnd. Sie konnte ihre Vorfreude nicht verbergen, die ebenso groß war wie ihre Aufregung. Frieda, die mit Helene einige der Entwürfe ausprobiert hatte, strich bestärkend über deren Schulter.

»Er wird deine Ideen großartig finden und sicher etwas davon übernehmen.«

Helene biss sich nervös auf die Unterlippe, nickte aber.

»Und nun los.« Frieda schenkte ihr ein Lächeln und auch Helma, die auf den Gang gekommen war, zeigte ihr, genau wie die Frauen am Band, beide Daumen hoch. Unter den Fabrikarbeiterinnen hatte es sich herumgesprochen, dass Helene heute ihrem Vater Ideen für neue Süßigkeiten präsentieren wollte. Endlich hatte sie eine vorzeigbare Auswahl zusammengestellt.

Mit flatterndem Herzen machte sich Helene auf den Weg. Über eine eiserne Wendeltreppe gelangte sie zu den Geschäftsräumlichkeiten. In der grauen Atmosphäre der Büros fühlte sie sich weit weniger wohl als in der Produktionshalle. Die oberste Etage hatte eine einschüchternde Wirkung auf sie. Hier wurden wesentliche Betriebsentscheidungen gefällt, Stellen besetzt oder gestrichen, Süßigkeiten für unrentabel erklärt und gepriesen. Helene ging den langen Flur entlang, an dessen Wänden Bilder der Geschäftsleitung angebracht waren. Mittendrin das Familienporträt der von Ratscheks, auf dem Helene zwischen ihren Brüdern mit ernstem Gesichtsausdruck in die Kamera starrte. Zu den Seiten standen ihre Eltern und blickten dem Betrachter ebenso streng entgegen. Sie hatten Stunden für diese Aufnahme gebraucht, auf die ihr Vater so erpicht gewesen war. Helene jagte es jedes Mal einen Schauer über den Rücken, wenn sie daran vorbeimusste. Unmerklich schüttelte sie sich, bevor sie weiterging. Sie spürte, wie ihre Schultern zusammensackten, je näher sie dem Büro ihres Vaters kam, und sah auf ihre Füße, die sich langsam über den marineblauen Teppich bewegten. Sie rief sich Henris Worte in Erinnerung, der ihr geraten hatte, selbstsicher aufzutreten und nicht zu betteln oder ihren Vater zu bedrängen. Unterwürfigkeit und Verzweiflung durchschaute er binnen weniger Sekunden und er verabscheute beides gleichermaßen.

»Bleib nonchalant«, ermahnte sie sich lautlos. Mit beiden Händen umklammerte sie den Griff ihrer Aktentasche, bevor sie in den Flur bog, in dem das unermüdliche Klacken einer Schreibmaschine zu hören war.

»Guten Tag, Fräulein Schneider«, grüßte Helene.

Abrupt hielt die Sekretärin ihres Vaters inne, schaute von der Tastatur auf und lächelte dünn. »Guten Tag.«

»Ist er zu sprechen?« Helene deutete auf die Tür neben Fräulein Schneiders penibel aufgeräumtem Arbeitsplatz.

»Ist er. Gehen Sie nur rein«, trällerte sie ungeduldig, schob sich ihre Brille auf die Nase und tippte angestrengt mit zwei Fingern weiter. Helenes Dank ging im Klacken der Schreibmaschine unter. Sie atmete tief ein und aus und versuchte, ihr vor Aufregung wild klopfendes Herz zu bändigen, bevor sie hineinging. Das Geschäftszimmer ihres Vaters erschlug sie jedes Mal mit seiner Extravaganz. Hohe Stuckdecke, eichenvertäfelte Wände, Marmorfußboden. Das teure Mobiliar, darunter ein breiter Mahagonischreibtisch mit Goldfüßen, stand dem eines Aristokraten in nichts nach. Helenes Vater legte großen Wert darauf, die noble Herkunft der Familie für jeden sichtbar zu machen. So prangte das blau-weiße Wappen der Landadelsfamilie aus Polen auf sämtlichen Produkten des Unternehmens. Helenes Schritte hallten im hohen Raum wider, als sie auf ihren Vater zuschritt, der hinter seinem Tisch saß und ganz versunken in seine Bücher schien.

»Wie sind...