»Wenn ich am Kopfende des Bettes stehe, wird der Kranke nicht mehr genesen. Siehst du mich aber am Fußende stehen, so wird der Kranke gesund, so schwer sein Leiden auch sein mag.«
Die Herrin des Todes und ihr Patensohn
Frau Melzer würde nicht durchkommen, so viel wusste Verena beim ersten Blick auf die Aura der Patientin. Violette Fäden faserten vom inneren Licht der bettlägerigen Frau ab, der goldene Schein um den Körper verblasste und blutete ins Nichts.
Verena hatte das Dutzende Male erlebt, wenn die Lebenskraft derart abnahm, dass sie sich wie ein ausbrennendes Feuer selbst verzehrte. Sie gab der Patientin noch zwei, drei Stunden und bettete Frau Melzer höher, damit sie besser Luft bekam.
Ihr eigener Kehlkopf verkantete sich. Verenas übernatürliche Gabe half bei der Bestimmung von Krankheiten oder Verletzungen. Sie hatte sogar einen Patienten vor einer falschen Bluttransfusion bewahrt, weil sie auch unterschiedliche Blutgruppen und Reste der persönlichen Aura darin wahrnahm.
Doch den Tod konnte niemand aufhalten. Dem Sterben machtlos ins Auge zu sehen war der schwierigste Teil des Berufs. Die auf unorthodoxe Weise erlangten Erkenntnisse weiterzugeben war ein anderes Problem.
Verena beschränkte sich auf dezente Empfehlungen, um die Kollegen auf die richtige Spur zu bringen und Revierkämpfe mit den Ärzten zu vermeiden. Da ihre Einschätzung der Todeszeit oft stimmte, nannte man sie hinter ihrem Rücken bereitsTodesengel.
Getuschel im Schwesternzimmer war das eine. Falls Verena jedoch verriet, wie sie ihr Wissen gewann, drohte ihr die Einweisung in eine Klinik ganz anderer Art.
Im Bus nach Hause döste Verena neben schläfrigen Frühaufstehern dem Bett entgegen.
Zuhause waren dann die Kapitel über Gefäßkrankheiten dran, ehe sie endlich in die Kissen sinken konnte. Sie hoffte auf einen ruhigen Morgen, um Kräfte für die Medizin-Vorlesung um 12 Uhr zu schöpfen. Wenigstens fingen bald die Semesterferien an, da konnte sie sich voll auf das Lernen für die Klausuren konzentrieren. Und ausschlafen, ein rarer Luxus, in der für Nachtarbeiter schlecht eingerichteten Welt.
Es war wohl bitter nötig, nachdem sogar Oberarzt Karden sie vorhin angesprochen hatte. Seine skeptischen Worte klangen ihr noch im Ohr: »So erschöpft, wie Sie aussehen, weiß man ja nie, ob Sie in ein Bett auf Station gehören oder ins Schwesternzimmer, Frau Seiler. Ich begrüße es, wenn Leute mehr aus sich machen wollen. Aber sind Sie der doppelten Belastung wirklich gewachsen?«
Als sie ihm versichert hatte, dass es ihr gut ging, hatte Karden Zähne gezeigt, was wohl Sympathie ausdrücken sollte. Dieser falsche Hund!
Seit durchgesickert war, dass sie sich weiterbildete, um eines Tages Ärztin zu werden, hatte er sie auf dem Kieker. Dabei stammte er selbst aus einer Medizinerfamilie und war, im Gegenteil zu ihr, auf einem weichen finanziellen Polster durchs Studium gerutscht.
Verena gähnte. Der Mond spiegelte sich im Seitenfenster, und sie lehnte den bleischweren Kopf ans kühle Glas. Zwei Stationen noch. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und nickte ein.
Zu den Seiten der Autobahn zogen Scheinwerfer vorbei. Regentropfen malten Batikmuster auf die Glasscheiben, doch als die Familienkutsche Tempo aufnahm, spülte der Luftzug sie wieder weg. Verena spürte die Beschleunigung im Bauch. Sie äugte zu ihrer jüngeren Schwester im Kindersitz hinüber. Marion war endlich eingeschlafen, nachdem sie gerade erst am Gurtschloss gespielt hatte.
Reifen und Motor erzeugten ein einschläferndes Brummen, Wasser spritzte seitlich hoch.
Plötzlich bockte der VW wie ein Wildpferd, und der Gurt straffte sich. Verena sah vorüberjagende Pfosten und die Leitplanke, dann folgten ein Knall und ein Stoß. Im Rückspiegel blitzte Papas angespanntes Gesicht auf. Er kurbelte wild am Lenkrad, Mama duckte sich auf dem Beifahrersitz.
Ein heftiger Ruck schüttelte den Wagen, un