Noch sechs Tage bis Heiligabend
Der vierte Advent war schon vorbei und ich war immer noch hier. Warum, wusste ich selbst nicht so recht. Vielleicht weil der Winter bis gestern Abend nur Durchschnittliches geboten hatte: Es war zu warm für die Jahreszeit und der Nieselregen nervte. Erst heute in den frühen Morgenstunden waren die Temperaturen abgestürzt. Es schneite und alle Weihnachtsfans wussten nicht wohin mit sich vor Festtagsfreude.
Ich gehörte nicht zu ihnen. Dabei habe ich nichts gegen Weihnachten. Ebenso wenig wie ich etwas gegen Wurzelbehandlungen habe, sofern sie medizinisch erforderlich sind. Kurz gesagt macht mich der nervtötende Rummel um dieses sogenannte Fest der Liebe krank und aus diesem Grund packe ich normalerweise spätestens am zweiten Advent meine Sachen und reise in irgendein Land. Egal welches, Hauptsache, es gibt ein islamistisches Regime, das das Begehen des Weihnachtsfestes unter Strafe stellt und jeden, der sich nicht daran hält, ohne viel Aufhebens hinrichtet.
Ausgerechnet in diesem Jahr blieb ich aber und so befand ich mich zufällig genau zu der Zeit in der City, als die Weihnachtsbäckerei in die Luft flog.
Na ja, so zufällig war es eigentlich nicht. Ich war in die Stadt gefahren, weil Tatjana, meine Ex, es unbedingt wollte. Sie hatte sich mit mir verabredet und um das Warum ein großes Geheimnis gemacht. Also schob ich mich mit den gestressten Einkäufern durch die Fußgängerzone und ertrug die Pöbeleien betrunkener Weihnachtsmarkttouristen. Rettete mich in das Café, das Tatjana mir als Treffpunkt genannt hatte, und ergatterte den letzten freien Tisch. Hörte mir bei einem Glas Bier kopfschüttelnd an, wie liebevolle Eltern ihren Kindern weismachen wollten, dass Tiere zu Weihnachten sprechen könnten. Weihnachten, das Fest der selbst verordneten Dummheit, dachte ich und fühlte mich wieder einmal bestätigt. Und dann sah ich es mit eigenen Augen.
»Das ist wieder mal typisch für dich.«
Sie saßen in einer Nische gegenüber meinem Tisch. Zwei Rentiere! Vermummt wie sie waren, mit Mütze, Schal und Schneebrille, mochten sie im vorweihnachtlichen Trubel als Menschen durchgehen, aber ich erkannte sie am Geweih und den dicken, fleischigen Nasen. Vor ihnen auf dem Tisch standen Tassen mit heißem Kakao, in denen überdimensionale Strohhalme steckten.
»Was denn? Was ist typisch für mich?«
»Dass du dich zufriedengibst.« Die Stimme dieses Tieres war höher als die des anderen, ich vermutete, dass es sich um ein Weibchen handelte.
»Wer sagt denn das?«, wehrte sich sein Gegenüber, das ein rotes Halstuch mit blauen Kreuzen um den Hals trug. »Und was ist falsch daran, zufrieden zu sein?«
»Absolut nichts, mein Schatz. Es geht nur darum,womit man zufrieden ist. Zum Beispiel damit, sein ganzes beschissenes Leben lang einen Schlitten zu ziehen und sonst nichts. Sich für andere krumm zu schuften und am Ende nichts dafür zu bekommen.«
Der Rentiermann pustete in seinen Strohhalm. Es blubberte. »Das ist nun mal mein Job«, brummte er.
»Eben. Und mehr Ambitionen hast du nicht.«
»Wer sagt denn das?«