Jussi Adler-Olsen
Der Spalt von Lünen
Deutsch von Stefanie Bergmann
Mein Gott, was für ein Konzert! Das war der Hansesaalat it’s best! Bernd Schmidt war in Gedanken beim gestrigen Konzert. Den Spießbürgern eins auf die Mütze! Tolle Frauen, die in dem blauen Licht wie Frühlingshasen umhersprangen, während die Männer ihr Bier kippten und sich von Candy Dulfer auf ihren turmhohen Stilettos verrückt machen ließen. Das war Jazz, wenn es Funk war, und Funk, wenn es Jazz war.
Warum New York, wenn es das auch in Lünen gab?, pflegte er zu sagen. Also gingen die Kinder jetzt in die Leoschule und seine Frau saß im fünften Stock im Rathaus, also blieben sie hier, auch wenn sein Arbeitsplatz in Dortmund war, fünfzig Minuten Autobahnstau von hier entfernt.
Schmidt versuchte, seinen Kater zu ignorieren, als das Telefon klingelte. Die Einsatzzentrale. Es war 6.35 Uhr und die Botschaft simpel: Der Berufsverkehr musste heute ohne Kriminalkommissar Bernd Schmidt auskommen, denn dieses Mal wartete die Arbeit nur sechshundert Meter entfernt auf ihn. In Lünen, am Ende der Borker Straße. Zwei alte Menschen mit durchgeschnittenen Kehlen.
»Eine Streife aus der Merschstraße ist schon da«, sagte der Kollege am Telefon. »Das Paar, das die Leichen gefunden hat, ist außer sich.«
Mord, sagten sie. Abgesehen von einer zweifelhaften Affäre um eine überfahrene Person war es Jahre her, dass es in Lünen ein Gewaltverbrechen gegeben hatte.
Was Bernd wunderte, als er am Tatort stand, war nicht dieTatsache, dass die Leichen übereinander auf dem eingedrückten Dach eines Lieferwagens hinter der alten Stadtsparkasse lagen. Wenn man den Kopf in den Nacken legte, sah man im obersten Stock ein Fenster offen stehen. Er war auch nicht überrascht von der Identität der beiden – man hatte sie rasch als freundliches Paar in den Achtzigern identifiziert, das sehr lange in genau dieser Wohnung gelebt hatte.
Nein, was ihn wunderte, waren die Umstände: Wie sollte es möglich sein, sich selbst die Kehle durchzuschneiden und sich danach noch aus dem Fenster zu stürzen? Nach Selbstmord sah das nicht aus. Die Frage war also, wer den beiden Alten so übel mitgespielt hatte, wo ihre Wohnung doch so unberührt wirkte. Dass die Tat dort begangen worden war, stand außer Zweifel, die Blutflecken sprachen eine eindeutige Sprache. Aber es gab keinerlei Spuren eines Einbruchs oder Kampfes. Zwar fand man ein paar nicht zu identifizierende Fingerabdrücke in der Wohnung und deutliche Fußspuren auf der Treppe, aber weitere Erkenntnisse brachten die kriminaltechnischen Ermittlungen nicht.
Die Tochter des Paares ging schockiert durch die Wohnungund bestätigte, dass nichts gestohlen worden war und auch sonst alles aussah wie immer. So hatten sie nicht mal ein Motiv.
Bis zum Abend waren Bernd und seine Kollegen kein Stück weitergekommen.
Nein, das war keiner von Kriminalkommissar Bernd Schmidt