»Michael, Tobias, Benjamin! Essen ist fertig!«
Ilse Holler rief es laut aus dem Küchenfenster. Und schon raschelte es im Gebüsch unten am Bach und in den Zweigen des alten Apfelbaums.
Drei wildbemalte Indianer kamen dahergestürzt.
Frau Fritsche, die Besitzerin eines ähnlichen Hauses nebenan, diese immer freundliche Frau, auch dann freundlich, wenn die drei Holler-Hallodris mal wieder Krach für zehn produzierten, richtete sich vom Unkrautjäten auf und lachte.
»Das ist ja genau wie in der Spaghetti-Werbung. Kaum rufen Sie, sitzt schon die ganze Rasselbande am Tisch. Wenn meine früher bloß auch so gut pariert hätten. Wie machen Sie das bloß?«
Auch Ilse Holler lachte: »Genau wie in der Werbung! Die drei wissen, daß es heute Nudeln mit Tomatensoße gibt. Und das mögen sie am liebsten.«
Weit konnte sich die Mutter der drei Rangen zur Unterhaltung mit der Nachbarin nicht mehr aus dem Fenster beugen. Da war Kind Nummer vier, das eigentlich schon seit einigen Tagen auf der Welt sein sollte, viel zu sehr im Wege.
»Noch immer nicht soweit?« Frau Fritsche stellte die Frage halb neugierig, halb teilnahmsvoll. Obwohl ihre eigenen Schwangerschaften Jahrzehnte zurücklagen, konnte sie sich noch sehr gut daran erinnern, wie mühselig die letzten Schwangerschaftswochen gewesen waren, wie schwer sie besonders in der Hitze des Hochsommers daran zu tragen gehabt hatte. Und jetzt machten die Hundstage gerade wieder schweißtreibend ihrem Namen alle Ehre.
»Noch immer nicht«, seufzte Ilse Holler. »Aber lange kann’s nicht mehr dauern. »Das Kind hat sich schon vor Tagen gesenkt. Ich hoffe nur, es läßt sich, wenn’s dann wirklich losgeht, ein bißchen mehr Zeit als Benjamin. Der wäre ja fast unterwegs im Auto zur Welt gekommen.«
»Ja, ja, die Männer, schon im Kleinstformat zeigt sich, wie sie nun mal sind. Erst überlegen sie alles zehnmal und kommen nicht zu Potte. Dann aber kann’s ihnen nicht schnell genug gehen.«
Frau Fritsche wußte, wovon sie redete, als Ehefrau, Mutter von zwei Söhnen und Großmutter von drei Enkeln, alles Jungs.
»Sicher wird’s wieder ein Junge«, orakelte sie, »wenn er sich so lange Zeit läßt.«
»Bald werden wir’s wissen«, meinte Ilse Holler freundlich und winkte der Nachbarin abschließend zu, ehe sie sich in der großen Wohnküche dem leiblichen Wohl ihrer Jungs widmete. Ganz gewiß würde es kein vierter Junge werden. Schon seit vielen Monaten wußte sie, daß dieser keineswegs geplante Nachzügler als kleines Mädchen das Licht der Welt erblicken würde. Denn mit sechunddreißig Jahren ist man schließlich keine ganz junge Mutter, und ihr Mann Franz mit seinen gerade fröhlich gefeierten vier Jahrzehnten auch als Vater kein Springinsfeld mehr. Da wuchs die Gefahr einer möglichen Mißbildung beim Kind. Den Rat des Frauenarztes, eine Fruchtwasseruntersuchung vornehmen zu lassen, um eventuelle genetische Schäden auszuschlie-ßen, hatten sie deshalb getreulich befolgt.
Wenn Ilse Holler an die auf den kurzen Eingriff folgenden Wochen des Wartens dachte, bis das Auszählen der Chromosomen im Labor abgeschlossen, der Bericht verfaßt und dem Frauenarzt zugeleitet war, überlief sie allerdings jetzt noch ein Schauer des Entsetzens. Diese Ungewißheit! Diese bohrende Angst! Angst vor einer schlechten Nachricht und noch mehr Angst davor, bei einem geschädigten Kind nicht die Fähigkeit aufzubringen, die medizinisch ratsame Konsequenz zu ziehen, einem Abbruch zuzustimmen. Ach, aber diese Erleichterung, dieses Glück, als endlich, endlich die befreiende Nachricht kam: alles in bester Ordnung!
»Möchten Sie gern wissen, ob Junge oder Mädchen?« hatte der Arzt sich vergewissert. »Manche wollen sich die Überraschung nicht nehmen lassen; dann behalten wir natürlich diese Information des Labors für uns.«
Aber Ilse hatte keine Sekunde gezögert: »Natürlich will ich wissen, was uns demnächst ins Haus schneit.«
Gesund und ein Mädchen! An diesem Abend hatte sie, sonst als Schwangere supervernünftig, ohne jedes schlechte Gewissen ein Gläschen Sekt mit Franz getrunken.
»Unsere Tochter wird uns das verzeihen«, hatte Franz gelacht und zärtlich über Ilses schon deutlich gewölbtes Bäuchlein gestreichelt. An diesem Abend wurde auch beschlossen, die neue Erdenbürgerin Annika zu nennen, eine Zusammenfassung der Vornamen der beiden Großmütter, Anna und Franziska.
Auch den drei Jungs konnte die Mutter dann endlich erzählen, daß Nachwuchs zu erwarten war, und daß dieser Nachwuchs weiblichen Geschlechts sein würde. Die Reaktion der drei war alles andere als euphorisch ausgefallen.
Michael, mit seinen vierzehn Jahren schon fast ein junger Mann und sehr vernünftig für sein Alter, hatte nur den Kopf geschüttelt und auf seinen jüngsten Bruder, den sechsjährigen Benjamin gedeutet. »Er war doch schon ein echter Nachzügler. Und jetzt noch so eine Nervensäge?«
»Aber mein Zimmer teile ich mit so einem Schreihals nicht!«
Auch bei Tobias, zwei Jahre jünger als der Große und im Moment in der ruppigsten Anfangsphase der Pubertät, w