: Heinrich Mann
: Der Atem
: Books on Demand
: 9783753420813
: 1
: CHF 0.80
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 518
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Atem ist der letzte von Heinrich Manns Romanen. Er wurde von 1946 bis zum 25. Oktober 1947 im kalifornischen Exil geschrieben und 1949 veröffentlicht. (aus wikipedia.org)

Luiz Heinrich Mann (1871 - 1950) war ein deutscher Schriftsteller aus der Familie Mann. Er war der ältere Bruder von Thomas Mann, dessen Popularität seit den 1920er Jahren weiter zunahm und Heinrichs frühere Erfolge noch heute überstrahlt.

Ein aussichtsloser Gang


Die Frau fiel auf, aber sie bemerkte es nicht. Von weitem wirkte ihr Anzug prunkhaft, wenn auch altertümlich. Kenner bemerkten: die Mode von 1910. Eine Welt liegt zwischen ihr und der Tracht von 1939. Kam die Passantin näher, erwies das seidene Schleppkleid sich als ermüdet, die Spitzen des Umhanges als sorgfältig zusammengenäht. Nur die Schuhe waren neu, sogar kostbar. Die Strümpfe hatten, sooft die Person genötigt war den Rock aufzuheben, eine Masche verloren. Dies war die Erscheinung am frühen Morgen, als wenige sie sahen.

Sie ging, heute und täglich, entschlossen ihres Weges. Sie wendete niemals den Kopf. Alles sprach dafür, daß sie ein bekanntes Ziel verfolgte. Sie tat es mit Augen gleichgültig und leer. Die Stadt Nice an der Côte d'Azur hat einige sehr lange Straßen. Ob man aus dem Mittelpunkt oder, wie diese Einzelne, von draußen kommt, die rue de France verliert sich in der Ferne. Nach dem Ende, das außer Sicht, daher kein Ende war, blickte die Auffallende, nichts konnte sie ablenken. Ereignisse der Straße überging sie. Um so weniger Beachtung erreichten die seltenen Begegnenden, die unter den weitläufigen Hut spähten. Seine Federn hingen geknickt.

Da sie mittags unweigerlich zurückkehrte, kannte die Straße sie, wie ein zugehöriges Vorkommnis. Eine Frage war es nicht mehr, ob das kleine blasse Gesicht mit der zu feinen Nase noch immer den unbegründeten Hochmut ausdrückte. Man wußte Bescheid. Mehr als ihre verspäteten Gewänder forderte ihr stolzer Anstand die Überlegenheit der Leute heraus. Übrigens unterscheiden sie schwer die Verlassenheit vom Dünkel. Indessen haben sie ein untrügliches Gefühl für die Ausnahmen. Diese veranlassen nicht immer Hohn.

Die Leute lachen wohl, aber auf zivilisierte Art nach innen. Wie es ihnen eigentlich ergeht – nicht so einfach, ein unruhiger Respekt vor der Ausnahme spricht auch mit –, das könnten die Gesichter zeigen. Aber sie, die es angeht, fühlt sich nicht betroffen, sie ist so gut wie abwesend. Sollte sie, ohne daß es den Anschein hat, aufmerken, vielleicht hätte sie gerade Unglück und fände in einer Miene, was ihr ganz anders nahegehen müßte als Mißachtung oder sogar eine bedingte Huldigung. Das war das Mitgefühl, das selten auftrat, aber es zeigte sich. Der peinlichen Begegnung mit dem Erbarmen wich sie ohne Absicht aus. Es war, was sie am wenigsten bemerkte.

Das Verheimlichen hört notwendig auf, wenn die Selbstbeaufsichtigung aussetzt. Eine andere Frau hat es heute gesehen. Es war sehr früh am Tage, die abgeladenen Marktwagen rollten bis jetzt allein und mit Lärmen ihren Heimweg aus der Stadt. D