1.
WER IST DIESER KERL?
Was passiert, wenn man Kupferhydroxidcarbonat erhitzt? Allein bei dieser Frage drehte sich mir schon der Magen um. Chemie hatte noch nie zu meinen Lieblingsfächern gehört, und ich war froh, mich nach diesem Tag nie wieder mit Basen und Säuren beschäftigen zu müssen.
Mehr als hundert Schüler saßen in der Turnhalle. Die Luft war stickig und alle zwei Sekunden hustete jemand. Meine Hose zwickte schier überall, wo sie meine Haut berührte, aber wenn ich sie zurechtzupfen würde, sähe das in den Augen meiner Klassenkameraden vollkommen bescheuert und in den Augen der Aufsichtspersonen nach einemeindeutigen Spickversuch aus. Also litt ich still weiter.
Das hier war die letzte Frage – zugegeben, nicht auf dem Prüfungspapier. Ich hatte sie schon vor einer halben Stunde übersprungen, weil ich nicht darüber hinweggekommen war, wie unglaublich lang das WortKupferhydroxidcarbonat war. War das einer dieser Begriffe, an die man unendlich viele weitere hängen konnte, bis es ein einziges Kauderwelsch aus Buchstaben wurde, die man erst mit einer Kettensäge wieder voneinander trennen konnte?Kupferhydroxidcarbonatstudiendurchführungsplanungskommitee. Allein für diesen Gedanken hätte ich einen Orden verdient. Aber da diese Welt kalt und grau und unfair war, konnte ich schon glücklich sein, wenn ich auch nur eine Drei bekam.
Wennwir eine Drei bekamen.
Mit meinem Stift in der Hand lehnte ich mich zurück und tat so, als müsste ich mich ausgiebig strecken. Dabei drehte ich den Kopf und starrte zu Amber hinüber.
Im Gegensatz zu mir war meine Schwester unserer Naturhaarfarbe – einem strahlenden Blond – treu geblieben. Ihre Haare waren etwas länger als meine, ihre Nase ein bisschen schmaler, die Augen ein bisschen größer und sie alles in allem zehnmal schöner als ich. Sogar jetzt, wo sie sich hochkonzentriert über die Prüfung beugte, eine dünne Falte zwischen i#hren Augenbrauen, als würde ihr der Stoff auch nur ansatzweise schwerfallen.
Ich blies mir eine pechschwarze Strähne aus dem Gesicht. Bei Zwillingen gab es immer einen dummen. Und, wenn man zweieiig war, auch einen hässlichen. Und wenn Gott es ganz schlimm mit einem meinte, gewann derselbe Kandidat beide Preise.
Ich halte meine Dankesrede später.
Niemand käme jemals darauf, dass wir Zwillinge waren. Genauso wenig, wie jemand ahnte, dass wir miteinander reden konnten, ohne den Mund zu öffnen.
Glotz nicht so, Josie!, fuhr sie mich an.Die Aufsichtspersonen werden misstrauisch.
Ich verdrehte die Augen.Das könnten sie vielleicht werden, wenn du dir einen Spickzettel ins Gesicht tätowiert hättest.
Früher hatten wir unsere Gedankengespräche für ein Zwillingsding gehalten – bis uns mit den Jahren klar geworden war, dass es auf der ganzen Welt offenbar niemanden gab, der das auch konnte. Irgendwann hatten wir einander geschworen, darüber Stillschweigen zu bewahren. Bis jetzt, mit etwas mehr als sechzehn Jahren, hatten wir nie wieder davon gesprochen, siamesische Zwillinge im Geiste zu sein, und unsere Eltern hatten unser frühkindliches Gebrabbel darüber wohl im Nachhinein als typische Heranwachsendenspinnerei abgetan.
Ein Geheimnis mit seiner Schwester zu teilen, war auch als Fast-Erwachsene etwas total Cooles. Vor allem wenn man in meiner Haut steckte und einem jedes Mittel recht war, um gute Noten zu bekommen.Hey, hast du Frage 12 schon?
Ich sah, wie Amber die Stirn runzelte.Was?
Die Frage mit dem Karbo- Ich stockte und beugte mich wieder über meinen Prüfungsbogen.Kupferhydroxidcarbonat. Es war schon schwer, dieses Wort auch nur zudenken.
Ich hörte Papier rascheln und riet, dass Amber auf die entsprechende Seite blätterte.Ähm, dachte sie.Ich weiß es nicht.
Beinahe wäre mir der Stift aus der Hand gefallen.Du weißt es nicht?
Ich … Sie stockte.Ich hab da wohl was beim Auswendiglernen übersehen.
Wenn du es nicht weißt, wer dann? Du bist doch die Kluge von uns beiden, drängte ich sie. Meine Note würde sowieso nicht annähernd so gut werden wie ihre, weil ich jede einzelne Grafik versemmelt hatte – leider konnten wir uns keine telepathische