1.
Im Salon über dem Antiquitätengeschäft brannten an diesem Nachmittag nur wenige Lichter. Die Liebermanns empfingen zwar Dutzende von Gästen, doch es war keine der üblichen Geselligkeiten, die ihre Bekannten in die Eliasstraße führte. Das Kommen und Gehen und das Schlagen von Türen brachten kalte Luft und Unruhe in den geschmackvoll eingerichteten Raum. Dabei bemühte sich jeder der Neuankömmlinge um ein würdevolles Auftreten. Bärtige Herren in schwarzem Zwirn, den Zylinderhut auf dem Kopf, ließen sich schweigend auf Fußbänken oder Schemeln nieder, von denen sie sich nur mithilfe des Hauspersonals wieder erheben konnten. Ihre Ehefrauen legten die klammen Mäntel ab und scharten sich sogleich um den Kamin, wo nur ein kleines Feuer entfacht worden war. Auch für sie wurden eilig Stühle herbeigebracht. Das Dienstmädchen ging langsam durch den Raum, um den Besuchern Erfrischungen anzubieten. Es gab russischen Tee, den die meisten Gäste jedoch dankend ablehnten. Keiner wollte vor dem anderen den Eindruck erwecken, er sei nur gekommen, um zu essen und zu trinken. Geredet wurde, wenn überhaupt, nur leise, mit gesenkter Stimme. Die meisten saßen einfach ein Weilchen da und starrten ins Leere. Ehe sie sich erhoben, nickten sie den Gastgebern zum Abschied zu und verließen dann den Salon, um anderen Besuchern Platz zu machen. Damit war die Pflicht derSchiwa, der Totenklage für den alten Jakob Liebermann erfüllt.
Lea, die jüngste Tochter des Verstorbenen, stand ein wenig abseits und nestelte nervös an den schwarzen Perlen ihrer Kette. Sie wusste, dass dieSchiwa zu den Traditionen gehörte, auf deren Einhaltung ihr Vater strikt gepocht hätte. Dennoch wünschte sie sich, die Leute würden endlich gehen und sie mit ihrer Trauer allein lassen. Ihr einziger Trost war, dass die Trauerzeit an diesem Abend zu Ende ging. Ab morgen würden sie alle ihr gewohntes Leben wieder aufnehmen. Das Hausmädchen würde die schwarzen Tücher von den Spiegeln nehmen und den Trauerflor von der Tür entfernen. Ihre Brüder würden den Laden öffnen und Möbel verkaufen, genauso wie sie es vor Vaters Tod getan hatten. Dora, ihre Schwägerin, würde sich weiterhin um den Haushalt kümmern. Im Grunde war Lea sogar froh, dass die Ehefrau ihres ältesten Bruders Aaron diese Pflichten übernommen hatte, denn Lea hatte nie viel Interesse für die Tätigkeiten aufgebracht, mit denen sich die anderen jungen Mädchen ihres Alters beschäftigten. Vermutlich war das der Grund gewesen, warum ihr Vater sie in das teure Pensionat im Harz geschickt hatte. Dort hatte man Lea auf eine Ehe vorbereiten wollen, und zunächst hatte sie sich auch Mühe gegeben, ihren Vater nicht zu enttäuschen. Sie hatte Klavier-, Gesangs- und Tanzunterricht genommen. Sie hatte gelernt, wie man Haushaltsbücher führt und mit Dienstboten umgeht. Mit diesen und vielen weiteren Kenntnissen war sie im Sommer nach Dresden zurückgekehrt, wo sie aber bald hatte feststellen müssen, dass ihr Wissen überhaupt nicht anwendbar war. Jakob Liebermann war trotz seines geschäftlichen Erfolgs ein bescheidener Mann gewesen, der mehr Wert auf Fleiß und die Einhaltung der religiösen Gebote gelegt hatte als auf teure Kleidung oder delikate Speisen. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, das Antiquitätengeschäft am Sabbat zu öffnen. Er hatte darauf bestanden, dass man am Freitagabend in die Synagoge ging und die Feiertage einhielt. All das war Lea in