: Pashtana Durrani, Tamara Bralo
: Lasst uns lernen! Mein Kampf für Bildung in Afghanistan
: Verlagsgruppe Lübbe GmbH& Co. KG
: 9783751728836
: 1
: CHF 14.90
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Pashtana ist Lehrerin mit Leib und Seele. Früh beginnt sie, in der Schule ihres Vaters zu unterrichten. Schützend holt sie ihre Mitschülerinnen von zu Hause ab und begleitet sie zur Schule. Immer wieder erlebt sie, dass Mädchen nicht mehr zum Unterricht dürfen und verschwinden.Später gründet Pashtana eine NGO, sammelt Geld für Tablets, auf denen der Lehrstoff vorinstalliert ist, und bringt sie dahin, wo es keine Schulgebäude gibt.Mit ihrem Engagement wird sie zur Zielscheibe der Taliban, entgeht nur knapp einem Bombenanschlag. Als die Taliban im August 2021 die Macht im Land übernehmen, Schulen schließen und Frauenrechte beschneiden, werden die Tablets zur letzten Hoffnung auf Bildung ...



Pashtana wächst in einem Flüchtlingscamp in Pakistan auf. Ihr Vater, Führer eines afghanischen Stammes, gründet dort mit eigenem Geld eine Schule. Schon früh fängt Pashtana selbst an zu unterrichten. Mit 18 Jahren schlägt sie ein Oxford-Stipendium aus und gründet eine NGO, um afghanischen Mädchen eine Schulbildung zu ermöglichen. Nach ihrer Flucht aus Kandahar lebt sie in den USA, von wo sie weiter für ihre Mission kämpft.

Kapitel 1


Unsere Straße war die letzte der Stadt, bevor das Flüchtlingscamp begann; sie bildete eine unsichtbare Grenze zwischen den Menschen, die dazugehörten, und denen, die nicht dazugehörten.

Am Camp endeten die gepflasterten Straßen, dort fingen die verschlungenen unbefestigten Wege an. Je weiter man ins Flüchtlingscamp hineinkam, desto kleiner wurden die Gebäude, bis sie irgendwann völlig verschwanden und nur noch Zelte übrig blieben. Größtenteils gab es im Camp weder Strom noch fließendes Wasser.

Beinahe täglich kamen neue Menschen in Pakistan an, und die alten gingen niemals fort. Der Krieg in Afghanistan dauerte nun schon um die vierzig Jahre an, und Millionen Afghaninnen und Afghanen hatten ihr Land noch nie gesehen. Ich war eine von ihnen. Ein Flüchtling in dritter Generation.

Meine Großmutter, Khan Bibi, hatte die Familie hierher gebracht, nachdem sie vor dem Krieg und ihrem Ehemann geflohen war. Die Geschichten über Khan Bibi schienen so weit weg von unserer Realität, so weit weg von unserem Leben, dass sie wie Märchen in unseren Ohren klangen. Nur der weiche Klang, den die Stimme meines Vaters jedes Mal annahm, wenn er von ihr erzählte, hauchte Khan Bibi Leben ein.

Sie wuchs in einem Schloss auf. Die Zugbrücke, die das Schloss mit dem Dorf verband, wurde jede Nacht emporgezogen und morgens wieder hinabgelassen. Das quietschende Geräusch, das sie von sich gab, muss so laut gewesen sein, dass man es im ganzen Dorf hören konnte, und so wussten die Menschen, dass es Zeit zum Aufstehen war. Khan Bibi wurde angekleidet und bekam die Haare geflochten.

Meine Mutter erzählte mir regelmäßig, wie Khan Bibi hin und wieder beim Anblick irgendwelcher Details der opulenten Kulissen indischer Seifenopern in Tränen ausbrach. Dann wurde sie an die Vorhänge oder die Fenster ihres früheren Zuhauses erinnert.

Gemessen an den damaligen Verhältnissen war sie eine gebildete Frau und kannte den Großteil des Korans auswendig. Nach der Heirat zog sie aus dem Schloss aus, doch in ihrer Erinnerung ist es ihr Zuhause geblieben.

Nach allem, was man hört, hatten meine Großeltern ein schönes Leben. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem mein Großvater nach einem kleinen Streit beschloss, sich eine Zweitfrau zu nehmen. Da brach die Hölle los.

Für meine Großmutter kam das nämlich überhaupt nicht infrage. Im Islam mag es gestattet sein, mehr als eine Frau zu heiraten, doch in der Oberschicht war das nicht üblich. Es war eine Beleidigung.

Tu das nicht, warnte sie ihn.

Tu das nicht, warnten ihn seine Söhne.

Anfang der 1980er befand sich die Familie schon inmitten des Kriegs. Mein Großvater war ein Anführer der Mudschaheddin im Kampf gegen die sowjetische Besatzung. Was ihn anging, so war er derjenige, der Befehle erteilte, und nicht umgekehrt. Mit einer Sturheit, die eindeutig in der Familie liegt, beschloss er, sie alle zu brüskieren und setzte seine Heiratspläne in die Tat um.

Khan Bibi war jedoch ebenso wenig die Sorte Mensch, die einfach klein beigibt. An dem Abend, als ihr Ehemann ein absichtlich rauschendes Hochzeitsfest veranstaltete, um den Stachel noch tiefer in die Wunde zu bohren, versammelte sie ihre Kinder um sich und stellte sie vor die Wahl, ob sie mit ihr gehen oder bei ihrem Vater bleiben wollten.

Alle elf Kinder entschieden sich dafür, mit ihr zu gehen.

Khan Bibi blieb keine